Die Fütterung

Kapitel 28 - 14. Juni 2007


"Paul, wir holen Xandra doch übermorgen ab?"
"Na klar, müssen wir wohl!"
Pauls Antwort kam beim Abendessen wie aus der Pistole geschossen, obwohl eigentlich Sendepause war. Seit dem Wortwechsel vor einer Stunde, der genau genommen gar kein Wortwechsel gewesen war, hatten sie kein Wort mehr gesprochen. Zuhause konnten sie sich aus dem Weg gehen, aber in dem kleinen Ferienapartment war die Luft wie zum Schneiden. Deshalb war Paul froh, dass Claudia wieder ein normales Wort an ihn gerichtet hatte.
"Aber wieso übermorgen? Morgen Nacht, nach Mitternacht."
"Nein, übermorgen! Das haben wir dir doch schon erzählt!"
"Tut mir leid, das habt ihr nicht! Aber würdet ihr die Güte besitzen, es mir wenigstens ein einziges Mal zu wiederholen?"

So ganz hatte sich die Atmosphäre noch nicht wieder beruhigt. Paul hatte seine Entenfütterungsaktion Drei rechts, eine Handvoll links so lange fortgesetzt, bis die Brottüte leer gewesen war. Und just in diesem Moment war Alexandra auf der Terrasse erschienen, um die Enten zu füttern, wie sie sagte.
"Mama, Papa hat all unser Brot an unsere Enten verfüttert!!!"
Die Betonung auf unser und unsere machte klar, dass Brot und Enten Alexandra und ihrer Mutter zugesprochen wurden. Claudia und Paul hatten Alexandra das Petzen in frühen Jahren abgewöhnt. Erfolgreich. Es gab nur eine Ausnahme und die gab es häufiger, als es Paul recht war: Alexandra verpetzte ihren Vater. Das ärgerte ihn jedes Mal. Umso mehr, als er genau wusste, dass das regelmäßig den Einsatz von Claudia einläutete. Die beiden waren ein eingespieltes Team.

"Paul, was soll denn das? Nicht nur, dass du das Rosinenbrot isst, als sei es kostenlos, und am liebsten alles an die Armen verteilen würdest, jetzt gibst du auch noch unser letztes Brot an die Enten!!"
Entscheidend war gar nicht, was Claudia sagte, sondern immer, in welchem Ton sie es tat. Ganz abgesehen davon, dass es für Paul ganz neu war, dass das Brot, das er besorgt hatte, Alexandras und Claudias Brot gewesen sein sollte. Die streitbaren Enten durften seine Damen ja gern behalten. Aber der Ton machte die Musik und klang in Pauls Ohren wie eine Oper von Orff. Kaum auszuhalten. Es tat ihm weh. Er biss die Zähne zusammen und schwieg. Es fiel ihm nie etwas Vernünftiges ein, wenn ihn Claudia derart emotional anfuhr. Stundenlanges und manchmal tagelanges Schweigen war die Folge. Paul wusste, dass die Situation mit jeder Schweigeminute verfahrener wurde, aber er konnte nicht anders. Er war wie blockiert. Nein, er war blockiert! Das waren die Momente, Stunden, Tage in denen er ernsthaft die Anschaffung eines Aquariums erwog.

"Xandra übernachtet bei Marit. Der Vater bringt sie übermorgen Mittag nach Enkhuizen, wo wir sie abholen. Alles klar?"
"Alles klar. Wieso aus Amsterdam plötzlich Enkhuizen geworden ist, allerdings nicht."
"Mensch Papa. Wir gucken uns in Amsterdam Harry Potter an, auf Englisch übrigens, und fahren dann mit der Bahn zu ihr nach Hause, nach Leylystad."
Damit war Paul immer noch nicht klar, was Leylystad mit Enkhuizen zu tun hatte, aber des lieben Friedens willen wollte er nicht weiter nachhaken. Seine Damen unterhielten sich oft ganze Tage, ohne sich bewusst zu sein, wie häufig Paul sich ausgeschlossen fühlte, wie oft er allerdings auch gar nicht dabei war. Später waren sie sich dann aber immer ganz sicher, es Paul schon erzählt zu haben.

Ihre Enten würde er jedenfalls nicht mehr füttern, selbst wenn sie verhungern sollten.

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Die Enten

Kapitel 27 - 14. Juni 2007


Die Enten kamen zurück. Wenn Paul eine Hand voll Weißbrotbrocken ins Wasser warf, veranstalteten sie ein regelrechtes Wettessen. Bald waren es zwölf, die um das Brot wetteiferten. Einige, immer dieselben, mitten im Getümmel, andere zurückhaltender. Im Fußball würde man sagen, körperloser, jeden Zweikampf meidend. Paul bediente bevorzugt die ruhigen, friedlichen. Das führte aber nur dazu, dass die mit dem Kämpferherzen noch aggressiver wurden und anfingen, ganz rüde vorzugehen. Den schwächeren Enten blieb nichts anderes übrig, als immer wieder die Flucht zu ergreifen. Schon nach kurzer Zeit sah Paul vereinzelt Federn auf der Wasseroberfläche treiben.


Konkurrenzkampf-der-Enten

Konkurrenzkampf der Enten. Die drei Enten im Vordergrund hielten die hintere auf Abstand.


Wie gut, dass er keine Ente war. Entweder würde er ohne Federkleid durch die holländischen Grachten schwimmen oder schon in jungen Jahren (oder zählten die Enten die Monate?) elendig verhungert sein. Paul änderte seine Taktik. Erst warf er weit ausholend zwei, drei Krümel nach rechts außen. Nachdem sich die Vordrängler unter den Enten hinterher gestürzt hatten, streute er eine Handvoll Brot nach links. Dass klappte bestens und immer wieder aufs Neue. Paul setzte das Naturprogramm, das da lautet, Der Stärkere gewinnt, für ungefähr zwanzig Minuten außer Kraft. Leider nur bei den Enten.

Bei den gewissenlosen Menschen war das nicht so einfach. Die fühlten sich immer im Recht. Die konnten eine christliche Partei wählen, in der Kirche einen Euro für Brot für die Welt in den Klingelbeutel werfen, anschließend in ihren 40.000-Euro-Mercedes steigen, just for fun mal eben an die Ostsee oder in ihre 200 Quadratmeter-Wohnung fahren und eine Riesenparty mit Riesenbuffet geben, während auf der anderen Seite der Erdkugel jeden Tag 30.000 Kinder an Unterernährung starben. Paul hatte es aufgegeben, über Fragen wie Gerechtigkeit, Solidarität, christliche Botschaft oder Menschenliebe zu diskutieren. Er bekam immer die gleichen Argumente zu hören: Was konnte man schon dagegen tun? War das nicht schon immer so gewesen? Die arbeiten auch nicht so hart wie wir! Du fährst doch auch BMW, dann geh doch nach Afrika und kümmere dich um die Kinder.

Diese Antworten zeigten Paul, dass nicht einmal die Bereitschaft bestand, über die Schieflagen dieser Welt zu reden, geschweige denn, zumindest theoretisch, den Versuch zu unternehmen, sie ins Gleichgewicht zu bringen. Für das Handeln der Gutsituierten in seinem Umfeld besaß ein Menschenleben auf der anderen Erdhalbkugel keinerlei Bedeutung. Je reicher, desto unsensibler waren sie. Vielleicht waren sie reich geworden, weil sie so unsensibel waren? Wer jedoch den Finger in die Wunden dieser Welt legte, galt ganz schnell als nicht ernstzunehmender Weltverbesserer, als weltfremder Spinner, unverbesserlicher Pessimist, alter Kommunist oder, wenn der Diskussionspartner sehr engagiert auftrat, auch schon mal als angehender Terrorist.

Das hatte Paul häufig genug erlebt, sogar in sehr viel subtilerer Form. Ein Geschäftsführer seines zweiten Arbeitgebers hatte ihn vor versammelter Mannschaft mit dem Titel Pastor belegt, weil Paul gegen die Schließung der betrieblichen Kantine argumentiert hatte. Das war fünf Jahre nach seinem Betriebswirtschaftsstudium gewesen. Damals fuhr Paul noch seine Ente.

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Das Aquarium

Kapitel 26 - 14. Juni 2007


Paul war kein Tierfreund. Wahrscheinlich lag es daran, dass er einfach nie Umgang mit Tieren hatte. Dafür hatte er Respekt vor ihnen, besonders vor Hunden und Pferden, obwohl er keine schlechte Erfahrungen mit ihnen machen musste. Sein Vater besaß früher ein Aquarium mit Guppys, Neonfischen, Skalaren, Welsen und einem Kampffisch. Die Stunden, die Paul in seiner Jugend damit zugebracht hatte, den Fischen zuzusehen, mussten in die Tausende gegangen sein.

Immer, wenn es mit seinem Vater Stress gab, wandte er sich den Fischen zu. Sie waren nicht gestresst, nicht gereizt, zeigten ihm nicht Tag für Tag, dass er so, wie er war, nicht richtig war. Gaben ihm nicht jahrelang das Gefühl, zu stören, wiederholten nicht die immer gleichen Vorhaltungen. Sie nörgelten nicht an seinen langen Haaren herum, um im nächsten Atemzug voller Überzeugung zu erklären, dass bei Hitler nicht alles schlecht gewesen sei. Bei ihnen ging es nicht um eine Minute, die er zu spät zum Abendessen heimgekommen war. Sie störten sich nicht an den Hausschuhen, die er nicht trug, nicht an dem gekochten Ei, das er ungeschickt aß, und auch nicht an dem Schraubenzieher, den er nicht fachmännisch genug handhabte. Nein, die Fische kamen gern zu ihm an die Scheibe des Aquariums. Er brauchte diese nur mit dem Finger zu berühren. Es schien sogar, als mochten sie seine Musik. Sie waren immer dankbar für seine Gesellschaft, noch dankbarer allerdings für das Trockenfutter und die Wasserflöhe, mit denen er sie fütterte.

Für ihn war die Aquariumschau wie Meditation gewesen. Nein, nicht dass er geistesabwesend alles um sich herum vergessen hätte, dazu war die Stimmung jedes Mal einfach zu bedrückend, aber er hatte seine Ruhe. Es gibt Menschen, die Ruhe, absolute Ruhe überhaupt nicht vertragen können, die immer Leben oder zumindest eine Geräuschquelle um sich herum brauchen. Paul liebte die Ruhe, sie war ihm nicht fremd. Sie war ihm eine gute Freundin und noch heute eine gute alte Bekannte.

Er würde den Tag nie vergessen, an dem sein Vater die Fische in der Toilette herunterspülte. Weg waren sie, für immer. Von da an hatte Paul nur noch seine Musik gehabt: NDR2, Radio Luxemburg und Radio Carolina, seinen Dual-Plattenspieler und sein Uher-Tonbandgerät. Die Bee Gees, Hollies, Kinks, Tremeloes, T-Rex, CCR, Mozart, Beethoven und Bellini. Später dann, er hatte erst mit ungefähr 17 Jahren angefangen, sich für Literatur zu interessieren, waren Hesse, Dostojewski, Tolstoi, Kafka, Musil, Doderer, Lao-Tse und Highsmith hinzugekommen. Alle zusammen und jeder für sich waren sie großartiger und bewundernswerter als die Menschen, die er kannte, die Verwandten, Nachbarn, Lehrer, die Eltern seiner Freunde und Schulkameraden. Das änderte sich erst als Paul seine erste Freundin kennen lernte. Von da an war er seltener zu Hause gewesen, seltener bei seiner Musik und bei seinen Büchern.

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Global

Kapitel 25 - 14. Juni 2007


Paul war zum Glück zeitig zurück. Seine Damen hatten heute aber offenbar gar nicht mit ihm gerechnet. Alexandra erwärmte sich gerade eine Fertigsuppe, während Claudia für sie chattete. Die beiden klungelten so eng zusammen, dass sie schon mal ihre angestammten Rollen wechselten. Oder verwechselten, dachte Paul. Alexandra chattete täglich um die Welt. Global, wie sie es selbst nennen würde. Und immer mit drei oder vier Chatkontakten gleichzeitig. Wie sie das schaffte, ohne durcheinander zu geraten, blieb Paul ein Rätsel. Alexandra konnte problemlos stundenlang Parallelchatten, immer mit dem heutzutage üblichen Zweifingersystem und trotzdem schneller als Paul gucken konnte. Paul wäre dabei total durcheinander geraten und hätte seine Kurzinfos bestimmt ab und zu auf die falsche Seite der Erdkugel gebeamt. Die Verwicklungen, die das ergeben würde, konnte er sich lebhaft vorstellen. Probleme gab es bei Alexandra aber höchstens, wenn sie Hunger bekam. Dann musste sie sich im Messenger auf abwesend stellen oder Claudia musste für sie einspringen.

So wie jetzt, als Claudia mit Daniel in Henstedt-Ulzburg, Dana in Quickborn, Rachel in Wichita und Lara irgendwo in der Ukraine chattete, nicht ohne sich laufend mit Alexandra bezüglich der ein- und ausgehenden Mitteilungen abzustimmen. Paul wusste, warum Claudia nicht daran dachte, die Suppenzubereitung zu übernehmen. Sie wollte nicht nur zuschauen, sondern teilnehmen an der faszinierenden weltweiten Kommunikation. Paul erinnerte sich, an die Zeit, als seine Eltern in der ersten Hälfte der sechziger Jahre ihr erstes Telefon bekamen. Was hatte sich seitdem doch alles getan.

„Oh, das Internet funktioniert ja!“
„Ja, Gerrit war vorhin hier. Mit einem aus seiner Firma. Der hat das in drei Minuten hingekriegt!" Paul bemerkte Claudias Unterton, der ihm sagen sollte: Warum kannst du das nicht! "Geht aber nur mit Kabel, nicht wireless. Dazu muss er noch einen Access Point, oder wie das heißt, hier im Haus installieren.“ Alle Achtung! Claudia lernte schnell.
"Es geht ja auch so. Aber eben immer nur mit einem Lap zu Zeit.", merkte Paul an, bevor er gleich wieder ausgeschlossen wurde.
„Mama! Was hat Rachel denn nun geantwortet?“
„Sie will dich in zwei Jahren besuchen kommen. Was soll ich ihr schreiben? That's wonderful? I'm glad. I'll show you Hamburg, Berlin and our nice coasts?“ "Ne, Mama, schreib ihr nur, Great! und, dass sie Katie mitbringen soll."

Als Paul auf die Terrasse trat, verscheuchte er unbeabsichtigt die Enten, die sich offenbar eine Wiederholung der gestrigen Fütterung erhofft hatten. Paul nahm auf einem der Liegestühle Platz und stand sofort wieder auf. Er hatte sich auf etwas Weiches gesetzt. Es war das Weißbrot, das er heute Morgen im Supermarkt gekauft hatte. Die Packung war angebrochen. Es sah ganz so aus, als wenn eine Fütterung bereits stattgefunden hatte. Das Brot war jetzt erst recht zu nichts anderem mehr zu gebrauchen. Paul rückte den Stuhl ein wenig zurecht, so dass seine Füße über dem Wasser baumelten.


vorbeikommendes-Boot

Paul setzte sich gerade auf die Terrasse, als ein Boot vorbeifuhr. Vielleicht hatte der Hund die Enten verscheucht.

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Das Hotel

Kapitel 24 - 14. Juni 2007


Die Zimmer des Bosvrede besaßen keine Dachterrassen und auch keine Balkone. Ihre Fensterfronten wurden unterbrochen von strahlend weißer Außenfassade und von ebenfalls vom Boden bis zur Decke reichenden weniger breiten Fenstern, hinter denen Paul große Kakteen und schwarze Sessel erkennen konnte. An der Rezeption fragte er auf Englisch, ob in der kommenden Woche noch Zimmer frei wären. In der Zeit vom 20. bis 22. Juni gab es fünf freie Doppelzimmer, die alle nach vorn zur Eingangsseite und zu den Parkplätzen gelegen waren. Die Fensterfronten der teureren aber schon gebuchten Suiten zeigten ausnahmslos nach hinten, in Richtung Westen. Paul gab vor, für eine Kundenveranstaltung seines Unternehmens alle Suiten zu benötigen und erkundigte sich nach Terminen im Mai 2008. Eine nette junge Dame ging mit ihm nach oben.

Im für ein Hotel ungewöhnlich breiten und Licht durchfluteten Korridor hingen moderne Grafiken. Paul sah zum leicht gewölbten Glasdach des Korridors empor. Alles war gepflegt. Sogar das Glasdach war frei von Blättern und offensichtlich erst vor kurzem gereinigt worden. Es ließ viel Tageslicht herein und erweckte den Eindruck, man befände sich im Freien. Dieser Eindruck wurde dadurch noch verstärkt, dass die einzelnen Zimmer und Suiten nicht direkt vom Korridor aus zugängig waren, sondern von zwischen den Zimmern ausgesparten Zwischen-Räumen, in denen schwarze Ledersessel und riesige Kakteen standen. Alles sehr stilvoll. Die hier ebenfalls vom dunkelgrauen Marmorboden bis zum Glasdach reichenden Fenster gaben den Blick frei auf die Parkplätze, den See, den Rasen und den Wald und zur anderen Seite auf die Terrasse, den Park, den Wald und die Dünen. Paul war sich nicht sicher, ob das, was er am Waldrand sah, ein Hochsitz war.

Paul fragte, ob er für seine Geschäftsführung ein paar Fotos, pictures, machen dürfte. Die junge Frau sprach sehr gut englisch. Paul schätzte sie auf nicht viel mehr als zwanzig Jahre. Sie erhob keine Einwände. Er fotografierte Türen mit Zimmernummern, die schönen Ausblicke nach draußen und die Lage, Aufteilung sowie Ausstattung der vier Suiten, die er sich zeigen ließ. Die erste Suite, die Paul betrat, war angenehm großzügig geschnitten. Im kombinierten Wohn-Schlaf-Bereich stand ein großes einladendes Designbett, das aus einer einzigen fast quadratischen Matratze bestand, die zirka dreißig Zentimeter über dem Ahornparkett zu schweben schien. Mittelbraunes Laken und mittelbraune Bettbezüge. An der Wand darüber ein schätzungsweise ein Meter dreißig hohes und zwei Meter breites Foto. Das Motiv war nicht genau zu identifizieren. Vielleicht der vergrößerte Teil eines Rückens, eine schön geschwungene Linie, dunkelbraune Haut. Eine geschmackvolle und sehr künstlerische Farbfotografie.

Das Parkett verlieh dem Raum trotz seiner modernen Einrichtung eine gewisse Wärme. Vor dem Fenster zwei Lederliegen. Der weiße Lamellenvorhang ließ sich per Fernbedienung von beiden Seiten zur Fenstermitte hin automatisch schließen. An der dem Bett gegenüberliegenden Wand ein riesiger Flatscreen-TV und zwei dezente kleine Boxen der Marke BOSE. Darunter, auf einem Sideboard, eine mittelgroße, leere Blumenvase, ein Videorecorder oder Satellitenempfangsgerät und ein Laptop, der offenbar kabellosen Internetzugang ermöglichte. Er war mit einem Zusatzteil versehen, das Paul für eine Diebstahlsicherung hielt, ähnlich der Sicherungen mit denen die teureren Artikel in den großen Kaufhäusern versehen werden, nur viel kleiner und unscheinbarer. Vom dunkelbraunen Ledersofa, das mit zwei Freischwingern und einem weißen Tisch im Stil der 50er Jahre die Lese- bzw. Fernsehecke bildete, hatte man wie vom Bett und von den Liegen einen wunderschönen Blick auf den rückwärtigen Garten und den angrenzenden Wald.

Von der Terrasse war aus dieser Suite nichts zu sehen. Das vom WC getrennte Bad der Suite bot seinen Hotelgästen zwei nebeneinander platzierte rechteckige Waschbecken, eine Spiegelwand und neben einer geräumigen Duschkabine einen kleinen quadratischen Whirlpool, in dem nach Pauls Beurteilung wohl zwei Personen Platz hätten. In einem weiteren nicht mehr als sechs Quadratmeter großen Raum waren ein Kühlschrank, eine Kaffeemaschine und eine kleine Essecke untergebracht. Auf dem Tisch lag die Karte des Hotelrestaurants. Wer wollte, konnte sich das Frühstück oder auch kleinere Zwischenmahlzeiten auf die Suite bringen lassen. Die anderen Suiten waren im gleichen Stil gehalten. Accessoires, Farbgebungen und Fotos gaben jeder Suite ihre eigene Note und Stimmung.

Paul wurde anschließend durch das Restaurant geführt, durch zwei Tagungsräume, die durch das Entfernen der Zwischenwand zu einem großen Raum umgestaltet werden konnten, durch Bar und Aufenthaltsraum. Im Untergeschoß, besichtigte Paul einen Schwimmingpool, die Sauna und zwei Fitnessräume und - für ihn unerwartet aber sehr interessant - eine Garage, in der er neben einem Porsche Carrera Cabrio einen Bentley Continental GT und einen Jaguar XJR V8 stehen sah. Der Jaguar war silbergrau.

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An der Alster

Kapitel 23 - 14. Juni 2007


Paul stellte seinen BMW auf den letzten Stellplatz, in den er rückwärts einparkte. Im Rückspiegel sah er gepflegten Rasen. Gute zwanzig Meter dahinter begann der Wald. Die Parkplätze bestanden wie ihre Zuwegung aus zwei Reihen in den Rasen eingesetzter grauer Pflastersteine. Meterhoher Rhododendron trennte die einzelnen Stellplätze voneinander. Wenn ein Parkplatz diese Bezeichnung zu Recht verdient hatte, dann war es dieser! Ein Platz mitten im Park! Beim Aussteigen bewunderte Paul auch den See. Lang gestreckt mit nahezu geradlinigen Ufern wirkte er wie eine der Grachten, die das Landschaftsbild in Nordholland prägen. Er zog sein dunkelgraues Sakko über sein weißes Hemd und steckte Handy und Digitalkamera ein.

Über eine Holzbrücke gelangte er zum Eingang. Ein Aluminiumschild verriet ganz dezent den Namen: Bosvrede. Waldfrieden, übersetzte Paul und war sich sicher, für diesen friedlichen Ort mitten im Wald konnte es keinen passenderen Namen geben. Erst jetzt fiel ihm ein, dass es in Quickborn ein Hotel gleichen Namens gab. Das Hotel Waldfrieden lag im Norden von Quickborn, an der Kieler Straße Richtung Bilsen. Paul kannte das Hotel seit seinem zwölften Lebensjahr. Als er bei seinen Eltern in Norderstedt wohnte, war er einmal die fast zehn Kilometer zum Waldfrieden geradelt. Damals logierte hier die Bundesligaelf des HSV vor ihren Heimspielen im Volksparkstadion und Paul hatte auf das eine oder andere Autogramm gehofft. Da er zu zurückhaltend war und nicht wie andere einfach ins Hotel stürmte, war er damals leer ausgegangen.

Heute würde Paul das Hotel betreten. Er sah sich noch einmal um. Die Hotelanlage war nicht eingezäunt. Ganz anders als in Deutschland, wo jeder Häuschen- oder Kleingartenbesitzer am liebsten Steinmauern oder doch wenigstens Stahlzäune um sein Grundstück baute, gab es in Holland überwiegend kleine Hecken oder aber auch gar keine Abgrenzungen. Er betrat das Hotel. Durch die modern und großzügig gestaltete Empfangshalle gelangte er unbehelligt in das Restaurant und von dort auf die Terrasse. Den Garten betrat er nicht, aber er warf einen Blick auf den rückwärtigen Teil des Gebäudes. Die Zimmer befanden sich im ersten, obersten Stock. Jede Zimmerfront bestand aus einem einzigen großen Fenster.

Paul kannte diese großen vom Boden bis zur Decke reichenden Fensterscheiben. Ein Freund von Michi bewohnte in Hamburg-Winterhude eine gemietete 200 Quadratmeter Penthousewohnung. Die Fensterfront des Wohnbereichs bestand aus zwei hintereinander verschiebbaren Glastüren. Durch sie trat man auf die Dachterrasse.


Aussenalster-unweit-von-Michis-Freund

Paul erinnerte sich an die schönen Häuser an der Außenalster


Das Alsterpanorama war beeindruckend, nicht weit entfernt Bobby Reich, das beliebte an der nördlichen Ecke der Außenalster gelegene Café. Michis Freund war Art-Director einer erfolgreichen Werbeagentur. Michi hatte Paul einmal zu einer Party an die Alster mitgenommen. Von ihm wusste er, dass der Freund mittlerweile mit fünf Prozent an der Werbeagentur beteiligt war. Das sollte in der Branche üblich sein, um zu verhindern, dass gute Mitarbeiter ihre eigene Agentur gründeten und gute Kunden mitnahmen.

Paul hatte sich auf der Party nicht sehr wohl gefühlt. Wichtigtuerei, oberflächlicher Smalltalk über Geschäfts-, Wochenend- und Weltreisen ödeten ihn an. Ambiente und Buffet waren allerdings erstklassig gewesen. Die vor dem Penthouse stehenden Cabrios ebenfalls. Paul hatte selten so viele von ihnen auf einem Fleck gesehen.

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Die Biografie

Kapitel 22 - 14. Juni 2007


Dr. Dr. Rainer Buschmann, geb. 13.01.1951

Mitglied Vorstand und Arbeitdirektor Novalis International AG, Frankfurt
zuständig für Finanzen, Controlling, Personal, Organisation, IT, Asien, Nordamerika

zuvor:
Assistent des Vorstandsvorsitzenden der Hochpharma AG, Frankfurt; Bereichsleiter Unternehmensplanung, Organisation und Personal bei der SchwarzChem GmbH, Hamburg; Kaufmännischer Geschäftsführer SchwarzChem GmbH, Hamburg

Studium Universität Hamburg - Dissertation am Lehrstuhl Prof. Dr. Dr. Jacob:
Die Bedeutung heuristischer Methoden und stochastischer Verfahren für den optimalen Personaleinsatz im Industriebetrieb

Aufsichtsrat Deutsche Bank AG, Metro AG, Adecco AG, Plenum AG, Eon AG

Vorsitzender Arbeitgeberverband Chemie Mitte (seit 2004)

Berater der Bundesregierung, Berater der Hessischen Landesregierung

Expertenkommission des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales
Mitarbeit im Projekt: Steigerung des Sozialprodukts und Senkung der Arbeitslosigkeit durch Zuwanderung von Arbeitskräften aus Osteuropa und Indien

Ehrendoktor Universität Heidelberg, Ehrendoktor Universität Neu-Dehli,
Dozent Universität Köln, Dozent Führungsakademie der Bundeswehr, Hamburg

Veröffentlichungen: "Der Mitarbeiter und sein Return on Investment" HR-Verlag 1998,
"HRM goes international" EthiCon 2002, "Diversity Management" EthiCon 2003

Personal- und arbeitsmarktpolitische Konzepte mit internationaler Beachtung:
- Homogenisierung der Personalkosten internationaler Unternehmen
- Volkswirtschaften im internationalen Wettbewerb (Förderung d. Wettbewerbsfähigkeit, Umbau des Sozialstaats, Stärkung des Leistungsprinzips und des freien Unternehmertums)
- Best practice der Arbeitslosenversicherung (Vorreiterrolle Indiens, Reform nationaler Systeme, Arbeit statt Unterstützung)



Paul wusste, dass hinter jedem der wohlklingenden Konzepte immer dasselbe Grundmuster steckte: Erhöhung der Unternehmensgewinne und der Nettoeinkommen der Besserverdie-nenden, gleichzeitige Kürzung von Einkommen der Arbeiter, Angestellten und Beamten, der staatlichen Leistungen für Krankenhäuser, Sozialeinrichtungen, Schulen/Universitäten, Arbeitslose und Rentenempfänger. Am besten alles auf das Niveau von Indien. Paul wusste auch, dass das längst keine bloßen Konzepte mehr waren, sondern Realitäten. Unternehmensgewinne und Vorstandsbezüge waren in den letzten Jahren geradezu explodiert. Großunternehmen zahlten so gut wie keine Steuern mehr. Der Spitzensteuer-satz für Spitzenverdiener war von 56 auf 42 Prozent gesenkt worden. Manager mit einem Jahreseinkommen von 300.000 Euro hatten jetzt 42.000 Euro netto mehr zur Verfügung, während das Realeinkommen von Otto Normalverbraucher um mehr als fünf Prozent gesunken war.

Kurz vor ihrem Urlaub hatte der Telekom-Vorstand angekündigt, dass das Einkommen von insgesamt 45.000 Kundendienstmitarbeitern, Service-Technikern und Beschäftigen der Call-Center um dreißig bis fünfzig Prozent auf das marktübliche Niveau sinken müsse. Das war nur die Fortsetzung dessen, was VW, Karstadt, Beiersdorf und unzählige Unternehmen in den letzten Jahren vorexerziert hatten. Das entlarvende an diesem Vorgang war für Paul, dass in diesem Fall die Bundesregierung hinter diesem Vorhaben steckte. Die große Koalition bestand bekanntermaßen aus einer christlichen und eine sozialen Partei, so nannten sie sich jedenfalls. Die Bundesrepublik war zusammen mit der staatseigenen Kreditanstalt für Wiederaufbau mit mehr als 40 Prozent immer noch größter Einzelaktionär der Telekom. Mehr Arbeiten für weniger Geld, so lautete der neueste Slogan. Und Paul wusste ganz genau, wer diese Lawine in Gang gesetzt hatte.

Die ärgerliche Neuanschaffung eines Zerreißwolfs hatte Paul vor zwei Wochen mächtig aufgeregt. Er hatte Alexandra in Verdacht gehabt, die Schulhefte ihres 10. Schuljahres aus Bequemlichkeit en bloc in den Zerreißwolf gesteckt und ihn damit erledigt zu haben. Spätestens jetzt hatte Paul seine Neuinvestition für 129 Euro lieb gewonnen. Ein Zerreißwolf bot doch ganz andere Möglichkeiten als ein Papierkorb. Innerhalb weniger Sekunden waren das Referentenverzeichnis und mit ihm die viel zu lange Kurzbiografie zerschnippelt.

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Gmail

Kapitel 21 - 14. Juni 2007


„Geht das Internet schon?“, wollte Paul wissen. Die Wohnung war auf Vordermann gebracht. Massieren, Einreiben und Bandagieren lagen hinter ihm. Um kurz vor 12 Uhr war er bei Gerrit gewesen, um ihm zu sagen und zu zeigen, dass die Internetverbindung nicht zustande kommt. Mittendrin hatte sich der Lap plötzlich und unerwartet selbstständig heruntergefahren. Sein Akku war leer gewesen. Ein Glück, hatte Paul sich gesagt. Er hätte sonst garantiert nicht daran gedacht, ihn wieder aufzuladen. Claudias umfangreiche Liste mit Besorgungen aller Art hatte er auch abgearbeitet. Unter anderem sollte er zwei Packungen Weißbrot mitbringen. Wozu auch immer. Es war geschnitten, labberig aber günstig - je 0,29 Euro. Er blieb lieber bei seinem Rosinenbrot mit Marzipan. Das hatte zwar nicht auf Claudias Liste gestanden, lag aber jetzt auf der Arbeitsplatte ihrer Kückenzeile.

„Nein, natürlich nicht!“, war Alexandras prompte Antwort auf Pauls Frage nach dem Internet gewesen. Sie konnte jetzt den zweiten Tag hintereinander nicht chatten und fand das gar nicht mehr lustig.
„Claudia, ich nehm deinen Lap mal mit. Ich hab in Bergen einen PC-Laden gesehen. Die haben bestimmt Ahnung.“
„Is gut!“ hatte Claudia geantwortet, ohne von ihrem Taschenbuch aufzublicken. Ein Küsschen auf die Wange und Paul war, den Lap unter dem Arm, zum BMW gegangen.

Paul war in Bergen angekommen. Der Weg mit dem Auto über den Ring um Alkmaar erschien im wieder sehr viel länger als der, den er mit dem Fahrrad zurückgelegt hatte. Paul fuhr nicht zum Bosvrede, sondern zunächst in die Wilhelminalaan. Der Lap von Claudia lag wieder auf dem Beifahrersitz. Netgear war on und online, so dass Paul die Eingänge von Marijke Vredes E-Mail-Account abfragen konnte. Paul fand zwei E-Mails. Die erste kam von Gmail selbst. Soweit Paul die niederländischen Worte verstand bzw. richtig deutete, wurde Marijke willkommen geheißen. Ihr wurden alle Möglichkeiten aufgezählt, die ihr neuer Account ihr boten. Wenn sie einmal nicht weiter wissen sollte, konnte sie sich die FAQ-Seite von Gmail aufrufen oder eine E-Mail an ihr Gmail-Serviceteam senden.

Paul kannte die inzwischen allgemein übliche Bezeichnung FAQ. Wofür die Abkürzung ganz genau stand, vergaß er regelmäßig. Er setzte für FAQ immer Fragen und Antworten für Quickborn ein. Die zweite E-Mail kam von YouTube und war ebenfalls auf Niederländisch. Sicherheitshalber übersetzte er sich im Internet einiges ins Deutsche. Auch YouTube hieß sie willkommen. Ihr YouTube-Account würde aber erst dann frei geschaltet, wenn sie durch Anklicken des folgenden Links bestätigte, dass sie es war, die den Account angemeldet hatte. Paul bestätigte es für Marijke. Anschließend testete er Marejkes Account, indem er sich auf der YouTube-Homepage mit dem Nutzernamen Video4all und dem Passwort QuoVadis einloggte. Es klappte. Marijkes Internet-Accounts hatten ihren Test bestanden.

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Die Referenten

Kapitel 20 - 14. Juni 2007


An seinem PC im Arbeitszimmer hatte Paul irgendwann dann doch die Seite des XXII. IAPM Kongresses noch einmal aufgerufen und die Referentenliste überflogen. Er arbeitete in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer. Obwohl seine Selbstständigkeit genügend abwarf, um sich in guter Lage ein Büro anmieten zu können, blieb Paul lieber im Umkreis seiner Familie. Einem protzigen Büro mit schwerem Schreibtisch und teurer Grafik an der Wand konnte er sowieso nichts abgewinnen. Für seine Art des freien Unternehmertums benötigte er all das auch gar nicht.

Die Referentenliste war sehr umfangreich. Die Überschrift Auszug aus der Referentenliste (wird laufend ergänzt) erweckte den Eindruck, als sei nur ein Teil der Referenten überhaupt erwähnt und als erwarte die IAPM für ihren Kongress die Zusage noch weiterer namhafter Kapazitäten. Aber schon jetzt las sich die Übersicht wie das Who is Who des Human Resource Management: ein EU-Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Chancengleichheit; ein Generaldirektor des Chartered Institute of Personnel and Development; der Präsident der World Federation of Personnel Management Associations; der Direktor des Instituts für Führung und Personalmanagement an der Universität St. Gallen; Professoren der Universitäten Princeton, Osaka, Bangalore, Helsinki, Saarbrücken, Budapest und Ljubljana; eine Professorin aus Mailand; zwei Projektleiter der Boston Consulting Group; der HR Direktor der Stadt Paris; der Chairman der Toyota Motor Corporation; der CEO von Hewlett Packard und ein Mitglied des Vorstandes und Arbeitsdirektor der Novalis International AG.

Die Auflistung der Referenten wurde fortgesetzt mit den Kurzbiographien aller Referenten. Jede Biografie zeigte das Konterfei des Referenten. Die Biografien der Professoren waren ausführlich, die des HR Direktors von Paris, des Chairman von Toyota und des CEO von HP sehr knapp gehalten. Unternehmensberater traten immer zu zweit auf. Das kannte Paul schon. Ihre Biografien schienen einer der verkaufswirksamen Hochglanzbroschüren ihres Arbeitgebers entnommen. Paul hatte letztendlich den beruflichen Werdegang des Arbeitsdirektors der NOVALIS Int. AG vor sich. Wie er vermutet hatte, war diese Biografie umfangreicher als alle anderen. Irgendetwas in Paul weigerte sich, sie zu lesen. Er war sich sicher, er würde das alles bereits kennen. Er würde es schon mehrfach gehört und gelesen haben.

Fluchtartig klickte Paul zunächst auf das Druckersymbol und dann sofort auf den Link zum Hotelverzeichnis: Für unsere Kongressteilnehmer haben wir Zimmerkontingente reserviert und Sonderpreise abgesprochen. Wir empfehlen Ihnen die folgenden Hotels: Grand Hotel Krasnapolsky, Dam 9; Amsterdam Marriott Hotel, Stadhouderskade 12; Hotel Pulitzer, Prinsengracht 315-331; Renaissance Amsterdam Hotel, Kattengat 1; Amsterdam Centre Hotel, Stadhouderskade 7; Eden Rembrandt Square Hotel, Amstelstraat 17.

Keines der empfohlenen Hotels lag außerhalb von Amsterdam. Keines lag in Bergen.

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Stimmungsschwankung

Kapitel 19 - 14. Juni 2007


Claudia und Alexandra unterhielten sich am Frühstückstisch ausgiebig: Über Let’s dance die Ergebnisse des Votings, ihre Favoriten, die nächste Folge, über den neuen und gleichzeitig letzten Harry Potter-Band, die weltweiten nächtlichen Verkaufsveranstaltungen anlässlich seines Erscheinens im kommenden Monat, alle denkbaren Schlussszenarien bis hin zum Ableben von Harry und/oder Hermine, über ihr Shopping in Amsterdam, die Kollektion von VERO MODA, die neuen Modetrends für Herbst und Winter usw. usw. Paul konnte da nicht mitreden. So erging es ihm meistens, bei Claudias und Alexandras Themen. Claudia und Alexandra hatten Enten entdeckt. Oder die Enten hatten sie entdeckt? Jedenfalls waren immer mehr von ihnen angeschwommen gekommen. Claudia und Alexandra verfütterten das hart gewordenen Meterbrot, das sie sich in Quickborn für die lange Fahrt nach Holland gekauft, aber nicht gegessen hatten.


Enten

Claudia und Alexandra fütterten die Enten


Dann entdeckte Claudia, dass ihr Ehemann mit am Tisch saß:
„Paul, willst du dich im Urlaub nur von Rosinenbrot ernähren? - Hast du eigentlich an deine Tabletten gedacht?“
„Die hätte ich heute glatt vergessen.“
Paul stand auf und hörte Alexandra sagen: „Wie gut, dass ihr euch habt, damit ihr euch immer gegenseitig an eure Tabletten erinnern könnt!“
Paul nahm seine Tablette gegen Bluthochdruck und eine Kapsel mit Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen an der Spüle mit etwas Leitungswasser ein. Zurück auf der Terrasse, wurde er von Claudias Worten empfangen:
“Wirst du heute wieder zu einer deiner berühmten Nordsee-Expeditionen aufbrechen?“

Paul spürte unterschwellige Stimmungsschwankungen immer sofort. Er wusste nicht, ob sensibel das richtige Wort war. Feinfühlig schon eher. Ja, was Claudias Stimmung anging, war er feinfühlig, sehr feinfühlig sogar. Alexandra stand lieber auf und ging in die Wohnung an ihrem Lap. Sie war noch im Nachthemd. Anziehen, Abdecken, Bettenmachen, das lief alles nicht davon. Sie hatte schließlich Ferien. Keine eigentlichen Ferien, diese würden in Schleswig-Holstein erst Mitte Juli beginnen. Alexandra war vor drei Wochen, nach Abschluss ihres High School Jahres in Kansas, zurückgekehrt und brauchte erst zu Beginn ihres 12. Schuljahres wieder zum Unterricht zu erscheinen. Das amerikanische Schulsystem kannte nur ein paar freie Tage zu Weihnachten und im Frühjahr, aber keine längeren Frühjahrs-, Herbst- oder Weihnachtsferien wie das deutsche. Dafür dauerten die amerikanischen Sommerferien von Ende Mai bis Mitte August.

Paul entschied sich, der Situation eine positive Seite abzugewinnen. Claudia hatte seine gestrige Abwesenheit, seine Trennung von der Familie, sehr wohl registriert und war damit offenbar nicht so ganz einverstanden. Nichts anderes sollte er doch von seiner ihm in Liebe zugeneigten Ehefrau erwarten. Paul versuchte es ganz vorsichtig:
„Wie gehts deinem Fuß? Hat ihm der Ruhetag gut getan? - Soll ich ihn nachher vielleicht noch einmal massieren und neu bandagieren?“ Er hatte Erfolg.
„Ja, kannst du. Es ist noch nicht wirklich besser. Machst du bitte den Abwasch und bringst die Wohnung ein bisschen in Ordnung?“
Normalerweise hätte er Alexandra jetzt auf Trab gebracht, ihm zu helfen. In der momentanen Situation war es ihm zu riskant. Paul mochte keinen Familienstress. Er konnte ihn auch nicht gebrauchen. Schließlich wollte er am Nachmittag noch einmal nach Bergen.

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Personalmanagement

Kapitel 18 - 14. Juni 2007


Paul war viele Jahre mit Herz und Seele Leitender Angestellter im Personalwesen eines großen deutschen Markenartikelunternehmens gewesen. In dem Bereich, den er als direkter Vorgesetzter verantwortete, arbeiteten mehr als dreißig Mitarbeiter: Drei Abteilungsleiter Personalbeschaffung und Betreuung, ein Gruppenleiter Entgeltabrechnung, Sekretärinnen, Sachbearbeiter, ein Referent Grundsatzfragen, eine Betriebsschwester in Teilzeit, ein Gruppenleiter Kasino und zahlreiche Küchenmitarbeiterinnen. Sein Kollege Michi, Michael Paulsen, war Leiter Führungskräfte und Personalentwicklung gewesen.

Paul hatte sich immer bevorzugt in den Dienst der Mitarbeiter gestellt und erst in zweiter Linie in den Dienst von Geschäftsführung, Werk- und Ressortleitungen. Für ihn war das Personalwesen immer ein Personal- und Sozialwesen gewesen. Mit der modernen amerikanischen Begriffshülse Human Resource Management konnte und wollte er nichts anfangen. Als hätten ausgerechnet die Amerikaner gute Personalarbeit erfunden! Der Mensch war für ihn keine Ressource, die man zu managen hatte. Seiner Erfahrung nach sollte all den Managern, die mit dem Wort Human Resource Management jonglierten erst einmal beigebracht werden, was das Wort human eigentlich bedeutete! Er hatte Manager erlebt und ertragen. Ihre Reden und ihr Handeln, ihren Anspruch, und ihren Führungsalltag. Dazwischen lagen Welten! Er kannte all die Schönredner und die lange Reihe immer wieder neuer, wohl klingender Management- und Führungstheorien zur Genüge. Er verabscheute die einen wie die anderen.

Paul hatte die Wochen vor ihrem Urlaub deshalb auch wenig Neigung verspürt, die Homepage der IAPM noch einmal aufzusuchen. Als er sich doch überwunden hatte, sprangen ihm sogleich wieder die Vokabeln HRM, New Corporate Governance, Diversity Management ins Auge. Das war genau das richtige Programm für die seelenlosen Manager der Neuzeit, all die Schein-Heiligen, die sich für ein paar Tage aus ihren Büros verabschieden würden, um sich in der Gemeinschaft ihresgleichen wohl und wichtig zu fühlen. Paul regte sich gleich wieder auf. Er wollte gar nicht wissen, wie viele der Begleitpersonen, für die ein separates Programm mit Stadtrundfahrt etc. organisiert war, auf Firmenkosten, aber ohne Wissen der Ehefrauen, mitreisen würden. Quo vadis Management? Quo vadis Gesellschaft?

Paul wurde schlecht. Er klickte noch auf Referenten, druckte sich das Referentenverzeichnis und den Programmablauf aus und wollte sich soeben von der Internetseite verabschieden, als sein Blick auf die Teilnahmegebühr fiel: 900 € (Sonderpreis) für Teilnehmer aus Firmen, die Mitglied der IAPM oder einer ihrer Partnerorganisationen waren, oder 1.200 € (regulär) für Nichtmitglieder! Paul überschlug im Kopf die Gesamtkosten pro Teilnehmer. Zusätzlich zur Gebühr würden Aufwendungen für Anreise, Hotelübernachtung und Rahmenprogramm (u. a. Abendessen im Casino Zandvoort und Empfang im Rathaus) anfallen. Das war insgesamt mehr als das, was ein normaler Arbeiter oder Angestellter der unteren Entgeltgruppen im Monat brutto verdiente, wovon er sich und seine Familie ernähren musste. Paul löschte diese Seite aus seinen Favoriten.

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Die Kernspaltung

Kapitel 17 - 14. Juni 2007


Paul war früh aufgewacht. Noch im Bett ließ er die Bilder des gestrigen Tages Revue passieren: Den Ausblick aus ihrem Ferienapartment, Claudias dicke Ferse, die Bootstour mit Alexandra, die Fahrradwege mit den kleinen separaten Ampelanlagen für die Radler, sein Minibier, den kilometerlangen Nordseestrand, das Best Western Marijke, das Bosvrede, die kalten Spaghetti, die Wilheminalaan, Für Elise, Marijke Vrede, QuoVadis@Gmail.nl und Video4all. Er hatte das Gefühl, schon länger als nur einen Tag im Urlaub zu sein.

Trotzdem wollte bei ihm noch kein rechtes Urlaubsfeeling aufkommen. Das lag zu einem kleinen Teil am fehlenden Mittelmeer und am frischen Klima. Aber vor allem lag es daran, dass sie noch nicht wirklich zusammen urlaubten. Ihre Urlaube waren immer Familienurlaube gewesen. Es waren Urlaube, in denen die Teilung ihrer Familie in zwei Hälften, Claudia und Alexandra auf der einen Seite und ihm, Paul, auf der anderen, aufgehoben war. Die restliche Zeit der Jahre, die gesamte Nichturlaubszeit, hatte die Teilung bestand. Diese Teilung ihrer Familie ging einher mit dem, was bei Paul unter dem Begriff Kernspaltung gedanklich verarbeitet wurde. Der Kern war für Paul die Keimzelle ihrer Familie, die Beziehung zwischen Claudia und ihm, ihre Ehe, ihre Liebe. Aber nur Paul war es, so kam es ihm jedenfalls vor, der die Teilung der Familie und auch die Kernspaltung überhaupt wahrnahm, der sie empfand, bedauerte aber letztlich hingenommen hatte. Claudia und Alexandra hatten vor vielen, vielen Jahren einen neuen Kern gebildet und litten ganz offensichtlich keinerlei Mangel.

Paul wollte sich trotzdem auf das gemeinsame Frühstück freuen. Nach nur einem Urlaubstag sollte er nicht zu viel erwarten. Claudia lag im Bett und las in ihrem Taschenbuch. Alexandra schlief. Paul machte sich nach seiner Morgentoilette zu Fuß auf den Weg zum nahe gelegenen Einkaufszentrum. Es hatte ein wenig geregnet. Im Supermarkt kam er gleich hinter dem Eingang am Brot vorbei, das meiste amerikanisch labberig. Ein Drittel des Brotangebotes, so schien es Paul, bestand aus Rosinenbrot, Rosinenbrot mit Marzipan, Rosinenbrötchen und das, was sie in Norddeutschland Klöben oder Pudel nannten. Paul entschied sich ohne Umschweife für das mit Marzipan.


Kaeseecke-im-Supermarkt

Die große Käseecke beeindruckte Paul.


Die runden Käselaiber stapelten sich bis unter die Decke. Edamer, Leerdammer und Gouda. Junger Gouda, Gouda mittleren Alters, alter Gouda. Paul besorgte frische Vollmilch, jungen Gouda und Kalbsleberwurst. Die Brötchen kaufte er im Center beim Bäcker. Die Holländer ließen fünfe grade sein. Im Supermarkt zahlte Paul statt der errechneten 6,02 Euro sechs Euro, dafür beim Bäcker nicht 2,19 sondern zwei Euro und zwanzig Cent. Als ordentlicher, korrekter Norddeutscher wusste Paul nicht, ob er das gutfinden sollte.

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Für Marijke

Kapitel 16 - 13. Juni 2007


Pauls Hände waren kalt, wie ihm schien eiskalt, und das mitten im Sommer bei immer noch fast zwanzig Grad Außentemperatur. Er schob es auf die Klimaanlage seines BMW, die er im Sommer nicht mehr missen wollte, die er während der Fahrt aber gar nicht angeschaltet hatte.

Alles war ruhig, ein letzter Blick nach vorn und in den linken Seitenspiegel. Er war jetzt bereit. Alles in Ordnung. Plötzlich hörte er Beethovens Für Elise, eine seiner Lieblingsmelodien. Wie hatte Alexandra das wieder angestellt? Paul kannte sich nicht so gut aus. Hatte sie den Taskplaner von Windows so eingestellt, das er um genau 22 Uhr 09 den Windows Mediaplayer oder Winamp aufrief und die MP3-Datei mit dem Klavierstück abspielte? Paul ging in Sekundenbruchteilen viel durch den Kopf, klare Gedanken waren nicht dabei: Schöne Musik, blecherner Klang (da gänzlich unzulängliche Lautsprecher), vollkommen falscher Zeitpunkt, der dreh ich den Hals um, wie stell ich das jetzt wieder ab?! Pauls kalte Hände fingen jetzt auch noch an zu schwitzen. Das Display seines Handys blinkte blau - blau - blau und spielte Für Elise. Verflucht, es war sein Handy. Er hatte es wie immer in das kleine Fach der Mittelkonsole gelegt, neben die Parkgroschen. Wer konnte das sein, der ihn jetzt mitten im Urlaub in Holland anrief? Sein erster Gedanke: Seine Eltern! Irgendetwas war passiert! Er meldete sich:

„Paul Sommer!“
„Hallo Paps, wo bist du? Das Internet geht nicht. Wir sehen gerade Let’s dance und wollen jetzt voten, aber das Internet geht nicht! Weißt du eigentlich wo Mamas Lap ist, vielleicht geht es mit dem.“ Alexandras deutscher Wortschatz hatte in dem einen Jahr Amerika doch beträchtlich gelitten.
„Was weiß ich, wo Mama ihren Lap gelassen hat! Ihr braucht aber gar nicht zu suchen, das Internet geht wirklich nicht. Ich hab schon mit Gerrit gesprochen. Er will sich morgen drum kümmern.“
„Ok Paps, ich muss jetzt. Tschüssi!“

Paul stieg aus seinen BMW und ging ein paar Schritte in Richtung Wald. Er musste sich erst einmal beruhigen. Der Wald war groß, umrandete den Westteil von Bergen, dehnte sich im Norden bis Schoorl und Groet und im Westen bis Bergen aan Zee. Er bedeckte große Teile der riesigen Dünenlandschaft. Paul schätzte, dass er sich im Moment etwa achthundert Meter südlich vom Bosvrede befand. Er ging zum Auto zurück. Das, was er sich vorgenommen hatte, wollte er unbedingt erledigt haben, bevor es dunkeln und der Bildschirm von Claudias Lap im Auto zu sehr auffallen würde.

Jetzt nahm er den Lap auf seine Oberschenkel. Der nach oben geklappte Bildschirm verdeckte das Lenkrad nur zum Teil. Sein Handy hatte er auf lautlos gestellt. Ein kurzer Rundumblick und schon googelte und surfte er über email account nl zu gmail.nl. Er las: Een nieuwe, gratis webmailservice. Een account maken. Heb je al een Gmail-account? Waarom Gmail? Hier aanmelden.
Er wusste, warum! Er meldete ‚Marijke Vrede, Wilhelminalaan 11, 1861 LR Bergen (NH)’ an. Von seiner neuen E-Mail-Adresse war er wirklich begeistert: QuoVadis@Gmail.nl. Er hatte Bergen Wilheminalaan gegoogelt und über die Homepage des gegenüberliegenden Hotels (er erfuhr, dass es ZeeBergen hieß) die hiesige Postleitzahl in Erfahrung gebracht. Er wusste nicht, wofür das LR stand. Er hatte es einfach von der Hoteladresse übernommen. Paul war zufrieden mit sich, tippte oben in den Internet-Explorer www.youtube.nl ein und drückte die Return-Taste. Rechts neben dem Logo YouTube Broadcast Yourself klickte er auf Aanmelden.

Er meldete Marijke Vrede bei YouTube an. Er trug ihre E-Mail-Adresse ein und wählte als Nutzernamen: Video4all. Er hatte Glück. Der Name war noch an keinen anderen User vergeben. Passwort hieß hier Wachtwoord. Er wählte für Marijke QuoVadis, das er gleich noch einmal bestätigen musste. Geslacht: Vrouwelijk - Geschlecht: Weiblich. Beim Geboortedatum hatte er die freie Wahl: 17.01.1942. Er nahm das Datum, an dem Muhammad Ali als Cassius Marcellus Clay Jr. in Louisville (Kentucky) geboren wurde. Ein, wie Paul fand, ehrenwerter Tag. Dann noch ein Häkchen vor Ik ga akkoord met de gebruiksvoorwaarden und der abschließende Klick auf den Button Aanmelden. Fertig! Na also, sagte er sich, so schwer war das doch gar nicht!

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InterRail

Kapitel 15 - 13. Juni 2007


Paul kannte das Gefühl, etwas Unrechtes getan zu haben. Mit der Nutzung der fremden Heimnetze hatte er heute zum dritten Mal in seinem Leben bewusst etwas Unrechtmäßiges getan.

Das erste Mal war nicht wieder gut zu machen! Er könnte sich dafür noch heute ohrfeigen. Als kleines Kind, er war sechs Jahre alt gewesen, hatte er das Sparschwein seiner Großeltern in die Hand genommen und geschüttelt. Es war ein hellbraunes Schwein gewesen. Am Klang hatte Paul erkennen können, dass es nicht sehr voll war. Plötzlich fiel ein 2 DM Stück aus dem oberen Schlitz, durch den es auch eingeworfen worden sein musste. Totaler Zufall? Für Paul war es 1959 sehr viel Geld gewesen. Auch für die Erwachsenen war es in der Nachkriegszeit Geld, mit dem sie haushalten mussten. Konnten sie es sparen, so konnten sie sich glücklich schätzen. Seine Großeltern hatten es wahrscheinlich vom Munde abgespart. Paul hatte die zwei Mark nicht wieder eingeworfen, sondern behalten. Er wusste nicht mehr, wofür er es verwendet hatte. Er wusste nur, dass er damit nicht glücklich geworden war, wenngleich seine Tat nie entdeckt wurde. Sie lag noch heute, viele Jahre nach dem Ableben seiner Großeltern, wie ein Schatten auf seiner Seele.

Der zweite Vorfall ereignete sich 1972, in dem Jahr, in dem in München die Olympischen Spiele stattfanden. Der InterRail-Pass war gerade eingeführt worden. Er kostete 235 DM und ermöglichte jungen Leuten bis 21 Jahren unbegrenzte Bahnfahrten innerhalb Europas. Paul war damals das erste Mal allein in Urlaub gefahren. Er erinnerte sich noch genau an die Stationen seiner Reise: Paris, Lissabon, Lagos an der Algarve, Tossa de Mar und Barcelona, Marseille, Wien, Zermatt und das Matterhorn, Davos, Bern, Amsterdam und Duisburg. Duisburg deshalb, weil der HSV dort gegen den MSV spielte und 4:2 gewann. Es war Pauls erstes Auswärtsspiel gewesen, von dem er eine Erkältung davontrug, die ihn mit hohem Fieber und halbtot zu Hause ankommen ließ. Auf der Reise war es häufiger recht abenteuerlich zugegangen. Mitten in Spanien mussten alle Fahrgäste aussteigen. Der Zug war so voll gewesen, dass er das Überqueren einer Anhöhe verweigerte. In Lissabon zahlte Paul für das Hotelzimmer 6 Mark pro Nacht. In Barcelona war er das erste und garantiert auch letzte Mal in seinem Leben in einer Stierkampfarena gewesen. In Neapel, das er eigentlich von Marseille aus ansteuern wollte, war die Cholera ausgebrochen, so dass er umdisponieren musste. Wien, Davos und Bern waren ursprünglich gar nicht eingeplant gewesen. Dann wäre ihm das Erlebnis erspart geblieben, mit dem er die unangenehmen Erinnerungen verband.

Pauls finanzielle Möglichkeiten waren damals begrenzt. Er übernachtete und verpflegte sich so günstig er konnte. Obwohl er nicht viel wog, nahm er auf dieser vierwöchigen Reise fünf Kilogramm ab. In Davos schmerzte ihn die Ausgabe für die Bergbahn, die auf das Jakobshorn führte. Aber die 2.590 Meter waren zu Fuß nicht zu bewältigen. Bevor der Schaffner auf der Rückfahrt kassierte, hielt die Bergbahn an einer Station auf halber Höhe. Paul überlegte nicht lange. Er stieg aus und ging die restliche Wegstrecke zu Fuß. Bergab war der untere Teil kein großes Problem. Er hatte zwei oder drei Franken gespart, aber er hatte sich den ganzen Tag und auch noch den folgenden vermiest. Sein schlechtes Gewissen plagte ihn schon auf dem Weg nach unten, so dass er am Fuße des Berges sogleich nach einem Schalter der Bahngesellschaft Ausschau hielt, um die geprellte Zeche nachzuentrichten. Da es weder Schalter noch Büro gab, erkundigte er sich im Ort nach der Verwaltung der Gesellschaft und lief kilometerweit, um am Spätnachmittag letztendlich vor bereits geschlossenen Türen zu stehen. Die Nacht schlief er kaum. Noch während des Frühstücks rechnete er allen Ernstes damit, dass die Kantonspolizei jeden Moment kommen und ihn verhaften würde.

Er beruhigte sich erst, als er Davos verlassen und in Bern angekommen war. Das hohe Fieber am Ende seiner Reise hatte er als gerechte Strafe empfunden. Ein Seismograph, der in der Lage wäre, nicht nur die Energie zu messen, die bei Erdbeben freigesetzt wird, sondern auch Pauls kriminelle Energie, wäre sein Leben lang praktisch arbeitslos gewesen, seine drei Verfehlungen einmal ausgenommen. Und es gab noch eine Ausnahme: Paul hatte in Tokyo einmal ein schwaches Erdbeben miterlebt, als er in einem Restaurant gerade Tempura aß.

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Wilheminalaan

Kapitel 14 - 13. Juni 2007


Paul fuhr im Schritttempo durch die ruhige Wilhelminalaan, die in eine Querstraße mündete, an deren andere Seite ein Wald grenzte. Paul hatte zwei erfolglose Versuche unternommen, ein ungeschütztes Drahtlosnetz zu finden. Er musste sich jedes Mal überwinden. Lange suchte er wieder nach einem geeigneten, nicht so leicht einsehbaren Standplatz.

Er stellte den Motor ab, schaltete das Autoradio aus und nahm sich die holländische Tageszeitung, die er beim Tanken gekauft hatte und die jetzt auf dem Beifahrersitz Claudias Lap bedeckte. Seine Sonnenbrille behielt er auf. Scheinbar lesend sah er sich um, schaute in die Fenster der Häuser, in den Rückspiegel und in die Seitenspiegel. Er konnte gut erkennen, ob er aus den Häusern heraus beobachtet würde. Die Holländer kannten keine Gardinen oder sie mochten sie nicht. Er öffnete sein Seitenfenster einen guten Spalt, um sich nähernde Autos, Fahrradfahrer und Fußgänger hören zu können. Möglicherweise vorbeikommende Fahrradfahrer störten ihn am meisten. Sie würden sich schnell nähern, schneller als die Fußgänger, ohne jedoch so deutlich wahrnehmbare Geräusche zu verursachen wie die Autos. Er holte ein paar Mal tief Luft und sagte sich, dass er nichts erkennbar Unrechtes tun würde. Schließlich war es nicht verboten, im eigenen PKW seinen Laptop zu nutzen! Schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite erkannte Paul hinter zwei Bäumen mit dichtem Blattwerk ein kleines Hotel.


Fahrradport

Direkt neben dem Hotel sah Paul anstelle eines Carports einen holländischen Bikeport


Er ließ den Lap auf dem Beifahrersitz stehen und klappte den Bildschirm hoch. Nachdem Windows hochgefahren war, bewegte er den Cursor per Touchpad nach links unten auf Start. Er betätigte die sich vor dem Touchpad befindende linke Taste. Er hatte die Maus vergessen und musste sich jetzt so behelfen. Ungewohnt, aber es ging. Ohne Netzanschluss, nur mit dem Strom aus dem Akku, arbeitete das Display in geringerer Auflösung. Es war deutlich schlechter zu erkennen. Hinzu kam, dass die letzten Sonnestrahlen in den Innenraum des Wagens fielen und leicht blendeten. Im aufspringenden Menü klickte er auf Einstellungen und dann weiter auf Netzwerkverbindungen und Drahtlose Netzwerkverbindung. Dieses Mal hatte er Glück. Ein geschütztes Netz und ein ungeschütztes, namens Netgear. Netgear funktionierte und funkte einwandfrei. Der Router arbeitete offensichtlich noch so, wie er vom Hersteller ausgeliefert worden war, in der Grundeinstellung. Paul war im Internet. Aber er fühlte sich von Grund auf unwohl in seiner Haut.

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Bergen

Kapitel 13 - 13. Juni 2007


Noch zu Hause, in Quickborn, hatte sich Paul über Bergen informiert. Er kannte bis dahin nur die Stadt Bergen in Norwegen.

Er erinnerte sich an den Tagesausflug während ihres Norwegenurlaubs, an die zweistündigen Fahrten mit dem Katamaranschnellboot, die Einfahrt in den Hafen, das alte Hanseviertel (genauso hieß jetzt eine Einkaufspassage in Hamburg unweit von Innenalster, Jungfernstieg, Rathaus und Gänsemarkt) und an das berühmte Rathaus, in dem sie den Saal besichtigt hatten, in dem alljährlich der Friedensnobelpreis verliehen wird. Vor diesem Urlaub hätte Paul bei Günther Jauchs Wer wird Millionär ohne mit der Wimper zu zucken 500.000 Euro darauf verwettet, dass der Friedensnobelpreis in Schweden verliehen würde. Während des steilen Anstiegs mit der Bergbahn war Paul schwindelig geworden. Seit seinen unerklärlichen Gleichgewichtsstörungen war er alles andere als schwindelfrei. Der wunderschöne Blick über Stadt, Hafen und Meer hatte ihn dafür mehr als entschädigt. Während seine Damen ihren obligatorischen Geschäftebummel antraten, hatte sich Paul von der sengenden Mittagssonne nicht abhalten lassen und war lange marschiert, in einen anderen Stadtteil, bis zum Edvard Munch-Museum. Er wurde belohnt.

In eigens für ihre Präsentation geschaffenen Räumen, bestaunte er einzigartig eindrucksvolle Gemälde, von denen sich Der Schrei fest in sein Gedächtnis eingebrannte: Grelles Orange und flammendes Rot und ein Schrei aus tiefster, verzweifelter Seele. Der Schrei war für ihn das absolute Highlight ihres Oslo-Aufenthaltes gewesen. (Siehe und klicke unter PAULS LINKS in der rechten Spalte) Paul war Monate später sehr betroffen, als genau dieses Bild zusammen mit einem weiteren am helllichten Tag spektakulär geraubt wurde, von der norwegischen Mafia, wie sich später herausstellte. Beide Gemälde waren erst im letzten Jahr leicht beschädigt wieder aufgetaucht.

In ihrem alten Merian live Niederlande hatte Paul wenig gefunden: Bergen 15.000 Einwohner Um die Jahrhundertwende hatten Künstler und wohlhabende Holländer Bergen als Wohnort und Sommerfrische entdeckt. Sie bauten hier Villen, Schmuckstücke des Jugendstils und der Amsterdamer Schule. Im Zentrum des Ortes stehen Reste einer um 1594 abgebrannten Kirche. Von Bergen führt eine Straße nach Bergen aan Zee, dem Badeort mit Hotels, Ferienhäusern und Bungalows. Die angrenzende Wald- und Dünenlandschaft gilt als die schönste Nordhollands.

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Die Macher

Kapitel 12 - 13. Juni 2007


Wie vorhergesehen, hatte Paul um 21 Uhr 15 wieder familienfrei. Weil Giovanne Elber mitwirkte, hatte er sich die ersten fünf Minuten von Let's dance mit angesehen. Dann tat er gelangweilt und sagte, er wolle lieber noch eine Tour machen. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, das Wort machen aus seinem aktiven Wortschatz zu streichen. Aber das war gar nicht so einfach. Es rutschte ihm einfach immer wieder heraus. Eine Tour unternehmen, das hätte nicht so banal geklungen. Aber Paul wusste sich in Gesellschaft von Millionen Deutschen, für die es eine Art Volkssport zu sein schien, das Wort möglichst häufig in ihre Sprache einzubauen. Paul stolperte immer wieder über das machen. Das beschränkte sich beileibe nicht auf die Bild-Zeitung, deren sprachliches Niveau sich bekanntermaßen an jedermann richtet, die also auch vom fast noch Analphabeten gelesen und verstanden werden will. Selbst Tagesschausprecher und Fernsehkommentatoren bildeten keine Ausnahme.

Paul musste einräumen, dass viele stehende Begriffe ohne machen nicht zu machen waren: Einen Witz machen, Abitur machen, Karriere machen, Werbung machen, Lärm machen. Paul formulierte gewählter: Einen Witz erzählen? Das war etwas anderes, als einen Witz zu machen. Das Abitur absolvieren? Karriere fördern, anstreben? Werbung gestalten, kreieren? Lärm verbreiten? Das meinte alles nicht dasselbe. Paul kritisierte den Gebrauch des Wortes machen in anderen Fällen, nämlich immer dann, wenn er die deutsche Sprache seiner Auffassung nach verödete, um nicht zu sagen verblödete: Microsoft will Open Source machen. Wir machen auch Hausbesuche. Viele Deutsche machen wenigstens einmal im Monat Sport. Versandfertigmacher/in. Taliban machen Kinder ab sechs Jahren zu Mördern. Hunger und Seuchen machen sich im Irak breit.

Das waren nur die Beispiele der letzten Tage, an die er sich erinnerte. Paul hätte diese Liste beliebig fortsetzen können. Mit dem Wort machen ließ sich sogar Politik machen. Nicht die Amerikaner waren es, die sich im Irak breitgemacht und für Not und Elend unter der Zivilbevölkerung gesorgt hatten. Nein, Hunger und Seuchen machten sich breit. Das klang doch gleich ganz anders, neutraler, nach Schicksal, nach höheren Mächten oder dem normalen Lebensrisiko. Deutschland war für Paul jedenfalls das Land der Macher. Er wollte nicht dazugehören. Deshalb tadelte er sich beim Verlassen des Apartments für seine Wortwahl.

Er ließ Claudia und Alexandra in dem Glauben zurück, er wolle mit dem Fahrrad unterwegs. Claudias Lap hatte er zehn Minuten zuvor unbemerkt hinausgeschmuggelt und im Kofferraum seines 5er BMW verstaut. Gerrits Schuppen und das Netz in der Nachbarschaft wollte er nicht noch einmal nutzen. Linksys und sein problemloser Internetzugang heute Vormittag hatten Paul aber auf eine Idee gebracht. Er beabsichtigte, ein anderes, ebenfalls ungeschütztes Netz ausfindig zu machen, weiter entfernt von ihrer Ferienwohnung. Seit der Berichterstattung über die Verbreitung von Kinderpornografie im Netz und die illegalen MP3-Musiktauschbörsen wusste Paul, dass die Provider jeden Internetzugang ihrer Kunden detailliert protokollierten und speicherten. Jede Aktivität im Internet konnte eindeutig einer IP-Adresse zugeordnet und diese über die Internetprovider unzweifelhaft bis zum jeweiligen Kunden zurückverfolgt werden. Es wäre also möglich, Gerrits Nachbarn zu ermitteln. Die Tatsache, dass sein Netzwerk ungeschützt war, würde jeden, der sich in der Nähe seines Hauses aufhielt, zu einem potentiellen Übeltäter machen. Dazu würde im Zweifelsfall natürlich Gerrit zählen, aber auch die Mieter seiner Ferienwohnungen.


Paul-auf-dem-Weg-zu-seinem-BMW

Paul kam an diesem Nachbargrundstück vorbei und bewunderte den Garten


Ihr BMW, den Paul immer mein BMW nannte, parkte am Straßenrand, nicht direkt vor Gerrits Grundstück, sondern zwanzig Meter weiter auf den zur Kirche gehörenden Parkplätzen. Paul nahm sich vor, die Kirche und den Friedhof im Urlaub auf jeden Fall einmal aufzusuchen. Ohne festes Ziel gelangte er nach Alkmaar und folgte fast schon gewohnheitsmäßig der Ausschilderung Richtung Bergen. Die Radtour steckte ihm noch in den Beinen. Seine Entdecker- und Abenteuerlust war für heute mehr als gestillt. So gelangte er in den Ort, den er schon kannte und den er erst vor etwas weniger als zwei Stunden mit dem Fahrrad verlassen hatte.

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Der Kongress

Kapitel 11 - 13. Juni 2007


Ohne recht zu wissen, warum, hatte Paul im Mai, wenige Tage nach dem Telefonat mit Michael, amsterdam und kongress gegoogelt. Mit den ersten Ergebnissen war er nicht zufrieden gewesen, also hatte er amsterdam hrm eingegeben. Sein dritter Versuch 2007 amsterdam hr management lieferte ihm den Link zum XXII. IAPM Kongress. Paul klickte erneut die linke Maustaste, um auf die deutschsprachige Version der Seite zu gelangen, und las:

XXII. Kongress International Association for Personnel Management

"Vereintes Europa - Globaler Arbeitsmarkt?" vom 20. bis 22. Juni 2007 in Amsterdam

Programm-Highlights:

• Modernes Human Resource Management - Ein weltweiter Überblick
• Vom nationalen Markenartikler zum internationalen Leader/
Führung und Personalmanagement
• New Corporate Governance - HRM starts at the Top
• Diversity Management – Herausforderungen an den HR-Manager
• Quo vadis Human Resource Management?


Kongressprogramm - auf der Homepage - Download (pdf)
HR-Messe - alle Infos mit Ausstellerverzeichnis
Referenten
Begleitprogramm
Kontakt und Anmeldung
Kongresshotel
Anreise, Hotels
über Amsterdam


Beim Lesen war Paul zunehmend übel geworden. Kreislauf oder Magen oder Galle? Er hatte die Internetseite zu seinen Favoriten hinzugefügt, um sie später leichter wiederfinden zu können, das Fenster geöffnet und sich auf das Sofa gelegt. Erst nach einer dreiviertel Stunde war er aufgestanden, hatte das Abendessen ausgelassen und sich am folgenden Tag eine Auszeit genommen - kein Büro, kein PC. Als Selbstständiger konnte er sich seine Arbeitszeit zum Glück relativ frei einteilen.

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Ausblick

Kapitel 1 - 13. Juni 2007


Der schnurgerade Wasserlauf bildete hier, an seiner Biegung, eine Ausbuchtung von fünfzig Metern Durchmesser wie einen von der Natur geschaffenen See. Nur wenige Meter entfernt streckten Wasserpflanzen ihre gelben Blüten gen Himmel. Am gegenüberliegenden Ufer befand sich der Friedhof des kleinen Ortes versteckt hinter einem begrünten Wall, einer Reihe von Büschen, von Lärchen und zwei größeren Trauerweiden, die ihre unteren Zweige ins Wasser hängen ließen. Trauerweiden, wie passend, dachte Paul. Vier Enten gründelten dort drüben zwischen den Seerosen. Wenn ein Fisch an die Wasseroberfläche schnellte, vernahm er ein ganz leises Platschen und beobachtete die kleinen sich ringförmig ausbreitenden und auslaufenden Wellen.

Jeder Mensch trägt einen versteckten Friedhof in sich, hatte ein Arzt im Universitätsklinikum Eppendorf vor Jahren einmal zu ihm gesagt. Paul hatte nicht sogleich verstanden. Er beteuerte aufrichtig, keine Leichen im Keller zu haben. Mit mildem Lächeln und spürbar von oben herab - einer von vielen Gründen, warum er die Ärzte und Doktoren seitdem mied wie die Pest - wurde ihm erklärt, dass der innere Friedhof keine selbstverschuldeten Vorkommnisse des Lebens verstecke, sondern erlittene. Tief begraben lägen unverarbeitete Kränkungen, Zeiten tief empfundener Lieblosigkeiten oder schockierende Erlebnisse. Diese traumatischen Lebenseindrücke wären zwar zugeschüttet und oberflächlich vergessen, sozusagen unsichtbar für das alltägliche Bewusstsein, deshalb aber keineswegs bedeutungslos. Aus ihren Grabstellen gingen sie auf Wanderschaft, jederzeit mächtig genug, um in bestimmten Momenten entscheidenden Einfluss auf das Leben zu nehmen. Sie könnten Jahre später verantwortlich sein für Verhaltensauffälligkeiten. Ja, sie könnten sogar schwerste Krankheiten auslösen. Der Arzt hatte sich natürlich anders ausgedrückt, so als wollte er sein jahrelanges Studium in fünf Minuten zusammenfassen: Somatofone Dissoziation; psychovegetative Dekompensation; Agoraphobie; unintegrierte, sensorische, motorische, viszerale und emotionale Reinszenierung traumatischer Erfahrungen.

Die Aneinanderreihung lateinischer Fachausdrücke hatte Paul mehr irritiert als überzeugt. Zudem hatte der Mann in weißem Kittel ganz allgemein und wie von einer neutralen dritten Person gesprochen. Jeder Mensch, war speziell er damit gemeint? Als der Arzt anfing, Pauls Schwindel im medizinischen Sinne als wahrgenommene Scheinbewegung zwischen ihm und seiner Umwelt zu definieren, wollte Paul zwar den Glauben an die moderne Medizin nicht ganz aufgeben, aber den an den Mediziner hatte er endgültig verloren. Er konnte mit dessen ärztlicher Theorie nichts anfangen, zumal sie keinerlei Bezug zu seinen damaligen Befindlichkeitsstörungen aufwies. Für seine wiederkehrenden Gleichgewichtsstörungen konnte der Arzt, wie alle anderen von Paul aufgesuchten Fachleute, weder eine organische Ursache noch eine ihm einleuchtende Erklärung finden. Damals wie heute war Paul sich sehr sicher, dass er niemand war, der Vergangenheitsbewältigung per innerer Beerdigung betrieb. Er hielt sich für einen Menschen, der Probleme rational verarbeitete, für einen Mann der klaren Gedanken und strukturierten Denkweise. Sogar seine Chefs hatten ihm Selbstkontrolle, Konflikt- und Problemlösungspotential bescheinigt, wie es heutzutage so schön heißt. Bei ihm konnte sich gar nichts ansammeln und aufstauen.

Paul sah eine einzelne weiße Wolke, sie löste sich langsam auf. Am Horizont zeigte sich ihm eine der holländischen Windmühlen. Die Felder schienen unbewirtschaftet oder bereits abgeerntet. Paul zählte vier baugleiche Ruderboote, jedes etwa vier Meter lang, unten schwarz und oben grün gestrichen, mit rotbrauner Oberkante und grauen Innenseiten. Jedes sehr gut geeignet für eine beschauliche Fahrt durch die Grachten, vorbei an holländischer Idylle, kleinen Häuschen und lieblichen Gärten. Eines der Boote war an den Pfahl gebunden, der mit drei weiteren die Dachterrasse der Ferienwohnung trug, die über ihrem Apartment lag. Paul atmete mehrmals tief durch, tief in den Bauch hinein. Er empfand ein angenehmes Gefühl von Ruhe und Wärme. Die Weltformel, nach der die Wissenschaftler seit Einstein suchten, verwirklichte sich für ihn in diesem friedlichen Bild, das er vor sich sah. Ebenes Land, gerade, parallel verlaufende Wasserstraßen, ein blauer Himmel, der sich im blauen Wasser spiegelte, vier Enten und vier Boote. Er liebte seit je her die klaren geometrischen Formen und die geraden Zahlen. Seine Lieblingszahl war die acht. Legte man sie auf die Seite, ergab sie das mathematische Zeichen für unendlich. Der eigentliche Grund für seine Entspannung war jedoch, dass er sich zur richtigen Zeit am rechten Ort wähnte. Die nahen und deshalb ungewohnt lauten Kirchenglocken weckten ihn aus seiner Träumerei.


Ausblick von der Terasse des Ferienappartments

Pauls Ausblick von der Terrasse des Ferienapartments in Holland.

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Frühstückstisch

Kapitel 2 - 13. Juni 2007


„Du hättest gern schon Frühstück machen können!“ Claudia, seine Frau, verschwand gleich wieder, ohne eine Antwort zu erwarten oder eine Erwiderung zu ermöglichen. Paul blieb erst einmal sitzen. Seine Tochter würde zwei weitere Stunden schlafen. Weder das eindringliche Geläut der Kirchturmglocken noch eine hypothetische Wanderung der Seelen vom benachbarten Friedhof würden daran etwas ändern, sagte er sich. Wozu also schon den Tisch decken? Claudia und er würden kaum zu zweit frühstücken.

Seine Frau lebte seit Jahren nach dem Motto: Nicht ohne meine Tochter. Dieser mütterliche Grundsatz bestimmte weite Bereiche ihres gemeinsamen Lebens, eigentlich ihr ganzes Leben. Doch Paul war Familienmensch aus Überzeugung. Er war glücklich und zufrieden, dass Claudia und Alexandra sich so gut verstanden, dass sie ein Herz und eine Seele waren. Es gab genug Unfrieden auf Erden. Er war froh, wenn ihre kleine Welt zu dritt in Ordnung war. Das war ihm wichtiger als alles andere. Paul erhob sich, gruppierte drei Stühle um den kleinen runden Terrassentisch, trug den Laptop seiner Frau in das große Zimmer ihrer Ferienwohnung zurück und legte ihn neben den SONY-Fernseher, dorthin, wo auch Alexandras Lap lag. Das sah schön aus, zwei P28 von SAMSUNG direkt nebeneinander. Als weniger schön empfand Paul die riesige Flagge der Vereinigten Staaten von Amerika, die Alexandra mitgenommen und über einen eingerahmten Familienstammbaum gehängt hatte. Paul war in seiner Jugend jahrelang mit Fotos und Fernsehbildern des Vietnamkrieges bombardiert worden. Er hatte eine Art Allergie entwickelt gegen die vielen Bilder, die Napalmbomben, den DDT-Einsatz, die Massaker an der Bevölkerung, die Angst vor einem Atomkrieg und gegen die, die diesen Krieg trotz weltweiter Demonstrationen einfach nicht beenden wollten.

Das große Zimmer beherbergte neben der Sofa-Sessel-Fernsehecke, ein Doppelbett, das sich Claudia im Urlaub traditionsgemäß mit Alexandra teilte, eine Essecke mit Tisch und vier Korbstühlen und eine kleine Küchenzeile. Paul schlief im kleinen Zimmer nebenan, das gleichzeitig Durchgang war zum Wasch- und Duschraum und zum separaten WC. Claudia musste sich gerade im Waschraum aufhalten, das würde noch dauern. Bis dahin hätte Paul das Frühstück drei Mal fertig. Paul deckte den Tisch mit Toastbrot, Butter, Marmelade, Milch, Zucker, Süßstoff, Cornflakes, Nutella, Tilsiter und Salami. Claudia hatte ihren Kühlschrank zu Hause ausgeräumt und alles mitgenommen. Sie brauchten heute jedenfalls noch keine Lebensmittel einzukaufen. Die beiden Becher Kaffee, die Paul bereitete, waren ihr ‚Kaffee vor dem Frühstück’. Er gab drei kleine Pillen Süßstoff in Claudias Becher und etwas Milch. Er selbst nahm nur etwas Milch hinzu. Paul würde, nachdem Alexandra ausgeschlafen hatte, zum Frühstück zwei frische Tassen Kaffee filtern. Alexandra würde wie immer ihre Milch mit Erdbeergeschmack von Nesquick trinken.

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Ins Netz gegangen

Kapitel 3 - 13. Juni 2007


Vor einer Stunde hatte Paul versucht, seine Mails abzurufen. Der Lap fand drei drahtlose Netzwerke in Reichweite, zwei von ihnen gesichert und eines ungesichert. In das Netzwerk Gerrit, das war der Vorname ihres Vermieters, gelangte er problemlos. Das Passwort war auf einem Zettel notiert, den er gestern gleich nach ihrer Ankunft auf dem Fernseher vorgefunden hatte: R2D2Gerrit. Die beiden ebenfalls auf dem Fernseher stehenden Schildchen: Roken alleen buiten - Muziek alleen binnen - a.u.b. und Rauchen nur Draußen - Musik nur Innen - Bitte! hatten ihn amüsiert. Gerrits Router weigerte sich beharrlich, dem Lap eine IP-Adresse zuzuweisen, was er eigentlich ‚automatisch’ hätte tun sollen. Egal was Paul auch versucht hatte, er kam ins Netz aber nicht ins Internet. Den Internet-Zugang über das zweite geschützte Netzwerk hatte er gar nicht erst versucht. Ohne Passwort bestand keine Chance.

Also hatte Paul nach einer dreiviertel Stunde vergeblichen Bemühens das ungeschützte Netz Linksys ausprobiert, das einem von Gerrits Nachbarn gehören musste. Paul bekam innerhalb von Sekundenbruchteilen Zugang zum Netz und zum Internet. Ebenso schnell war er aber auch wieder draußen. Nach dem Hinweis Verbindung verfügt über keine oder eingeschränkte Konnektivität meldete der Internet-Explorer: Die Seite kann nicht angezeigt werden. Möglicherweise sind technische Schwierigkeiten aufgetreten. Paul vermutete Reichweitenprobleme. Es musste sich um einen entfernteren Nachbarn handeln.

Paul nahm den Lap, zog das Stromkabel heraus und machte sich auf den Weg über das Grundstück, entlang der Längsseite der alten Scheune, die Gerrit zu den beiden Ferienwohnungen ausgebaut hatte. Drei unterschiedlich lange Kanus waren dort kieloben aufgebockt. Er passierte den rechteckigen, etwa 1 mal 5 Meter großen, künstlich angelegten Teich, in dem ein Schwarm kleiner Fische rasend schnell hin und her schwamm, und mehrere Kunstobjekte. Gerrits Frau hatte eine künstlerische Ader und liebte ganz offensichtlich runde Formen. Der Bauch einer schwangeren Frau, ein wohlgeformtes weibliches Hinterteil, ein Ei, das von der anderen Seite betrachtet eine Welle darstellte.


Ruderboot-und-Seerosen

Paul auf seinem Weg zum Schuppen - Ruderboot und Seerosen.


Der Systemhinweis drahtlose Netzwerkverbindung ist nicht verbunden verschwand erst, als sich Paul dem Geräteschuppen näherte. Komisches Deutsch: Verbindung ist nicht verbunden, hatte Paul noch gedacht. Der Schuppen war nicht abgeschlossen und Paul war eingetreten. Er stellte den Lap auf einen ausrangierten Kühlschrank und setzte sich auf den Gepäckträger eines der abgestellten Fahrräder. In weniger als zwei Minuten hatte er seine Mails gelesen und gelöscht. Nichts von Wichtigkeit dabei. Als er den Schuppen wieder verließ, hatte er das Gefühl, etwas Unrechtes getan zu haben. Genau genommen hatte er das auch. Der Zugang über ein fremdes Netz war wohl nicht erlaubt. Aber kein Privathaushalt verfügte über eine Software, die neu einloggende Netzteilnehmer sofort meldet. Der Betreiber des Heimnetzes ahnte offensichtlich nicht einmal, dass jeder handelsübliche Computer im Umkreis von vielleicht bis zu 100 Metern über sein Netz gratis surfen und mit den entsprechenden Kenntnissen des Nutzers die Inhalte seines PC auslesen bzw. manipulieren konnte. Pauls heimliche Netzwerknutzung dürfte unbemerkt geblieben sein. Das Betreten des Schuppens am frühen Sonntagmorgen mit dem aufgeklappten Lap in den Händen war da schon etwas auffälliger.

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Die Achillesferse

Kapitel 4 - 13. Juni 2007


„Hast du heute Morgen meinen Lap spazieren getragen? Oder ward ihr in der Kirche?“ Frisch geduscht setzte sich Claudia an den gedeckten Tisch, nahm den bereitstehenden Kaffee und schaute sich um. „Schönes Fleckchen Erde! Hast du gut ausgesucht! Wo sind wir hier eigentlich?“

Typisch Claudia. Die Ferienplanung hatte sie ihm überlassen und bereits kurz hinter der Grenze war sie auf dem Beifahrersitz eingeschlafen. Müdigkeit empfindet Paul jedes Mal als ansteckend. Es war bereits dunkel gewesen und die auf holländischen Autobahnen und Landstraßen geltenden Geschwindigkeitsbeschränkungen treiben jeden deutschen Autofahrer sowieso nach wenigen Kilometern an den Rand des Sekundenschlafs. Paul war sich sicher, dass diese erzwungene, der menschlichen Natur extrem zuwiderlaufende und total einschläfernde Fahrweise die Unfallzahlen keinesfalls senken kann, sondern das genaue Gegenteil bewirken muss. Paul war jedenfalls froh gewesen, den Wagen in keine Gracht gesteuert und die Familie unversehrt ans Urlaubsziel kutschiert zu haben.

„Zu deiner ersten Frage: Wir waren auf dem Friedhof. Ich habe deinem Lap gezeigt, wo er hinkommt, wenn er nicht endlich willens ist, sich mit dem Internet zu verbinden. Und zu deiner zweiten: Holland, nördlich von Alkmaar, Broek op Langedijk, Dorpsstraat. Darf ich vorstellen? Das ist unser Ruderboot!“
„Ich dachte, du wolltest radeln bis zum Umfallen?“
„Ich war vorhin im Schuppen und habe uns schon mal drei Räder ausgesucht.“
„Meine Achillessehne macht wieder Ärger, schau mal! Hab schon länger so einen Druck verspürt aber eben unter der Dusche erst gemerkt, wie dick das geworden ist.“

Als Claudia vor neunzehn Jahren mit Krümel schwanger war, hatte sie mehr als zwanzig Kilo zugenommen. Krümel, das war ihr Arbeitstitel für das werdende Baby, von dem auf den ersten Ultraschallfotos wirklich nicht viel mehr als ein Krümel zu erkennen gewesen war. Damals machte sich Claudias Achillesferse das erste Mal bemerkbar. Das wiederholte sich, nachdem sie Krümel in Alexandra umgetauft hatten auch ohne Schwangerschaft alle paar Jahre, war zu ertragen aber meist langwierig. Nun, umso besser, Paul würde allein radeln. So konnte er Geschwindigkeit, Fahrtroute und -ziel selbst bestimmen. Ohne Claudia würde auch Alexandra nicht mitmachen. Für sie galt im Umkehrschluss: Nicht ohne meine Mutter.

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Das Mittelmeer

Kapitel 5 - 13. Juni 2007


Agios Nikolaos, Patmos, Symi, Portovenere, Atrani, Cefalù. Ein Traum. Sie waren eingefleischte Mittelmeerfans, liebten die Landschaften des Südens, die Orte, die Atmosphäre, das Essen und den blauen Himmel. Claudia bevorzugte die Beschaulichkeit und Ruhe Griechenlands, Paul mehr den Lebensstil und das liebenswerte Chaos Mittel- und Süditaliens. Claudia konnte sich jeden Tag von Griechischem Salat und Mineralwasser ernähren. Paul wählte lieber Spaghetti Carbonara oder eine Pizza Diavolo und trank einen Valpolicella dazu. Obwohl der in Norditalien angebaut wurde, schmeckte er Paul - auch zum abschließenden Gorgonzola.

Ihr erster gemeinsamer Urlaub hatte sie nach Italien geführt. Paul hatte haufenweise Erinnerungen an diesen Urlaub: An STANDA, den Supermarkt in Venedig; an die Mücken in ihrem Hotelzimmer in Padua; die gefühlte Gravitation auf dem Schiefen Turm von Pisa; an das Albergo Moderna in Lucca; die Jugendstilbauten in Viareggio; die nächtliche Fahrt im leeren Zug von Napoli nach Sorrento; an den verrückten Fahrer und die halsbrecherische Busfahrt entlang der Costa Amalfitana; an die Frühstückseier auf der Terrasse ihres Hotels in Positano und an die 100000 Lire, die Paul versehentlich als Trinkgeld im Restaurant gegeben hatte. Damals besaßen sie noch kein Auto und waren die ganze Strecke mit der Bahn unterwegs.

Strandurlauber waren sie nie gewesen und länger als vier, fünf Tage hielt es sie selten an einem Ort. Dann suchten sie sich ein neues Quartier in einer anderen Stadt. Alexandra hatte nie anderen Urlaub gemacht und sie fuhr immer noch gern mit ihnen. Auch sie liebte das Mittelmeer. Deshalb waren Claudia und Alexandra alles andere als begeistert gewesen, als ihnen Paul vor Wochen eröffnete, er müsse damit rechnen, im Urlaub vielleicht ein oder zwei Mal zurück zu müssen, ins Büro und vielleicht zu einem Kunden. Er hatte Holland vorgeschlagen, in wenigen Autostunden erreichbar. Es wäre auch besser, dieses Mal nicht umherzureisen, sondern sich eine feste Unterkunft zu buchen. Mehr als zwei Wochen wären ihm leider nicht möglich. Aber, wenn sie wollten, könnten Claudia und Alexandra gern länger bleiben. Er würde sie natürlich mit dem Wagen wieder abholen. Sie waren erst einmal in Holland gewesen, damals vor ihrer Hochzeit. Das war jetzt 23 Jahre her. Nachdem Claudia und Alexandra einen Türkeiurlaub zu zweit erwogen und wieder verworfen hatten, willigten sie wenig begeistert ein, sprachen noch einmal vom Shopping in Amsterdam und erwähnten den Urlaub fortan mit keiner Silbe mehr.

Paul hatte dieses Mal alle Vorbereitungen allein getroffen, mit Bedacht Broek op Langedijk als Urlaubsort gewählt und mehrmals den Wunsch geäußert, viel Fahrrad fahren zu wollen. Holland hätte die besten Fahrradwege der Welt, zweispurig mit eigenen Ampeln. Fahrradfahren sei gut für das Herz-Kreislaufsystem, die Kniegelenke und das Kalorienverbrennen. Das mit den Kalorien leuchtete seinen Damen spontan ein und damit war das Thema gegessen. Paul hatte seine Absicht untermauert und seit vielen Jahren das erste Mal wieder einige große Runden gedreht. So nannten sie ihre 7,2 Kilometer lange Fahrradtour, vorbei an der Feuerwehr und am Golfplatz, durch den Ortsteil Renzel, Richtung Himmelmoor und über die Pinnau wieder zurück in den Ort und zu ihrer Wohnung.

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Gastschüler

Kapitel 6 - 13. Juni 2007


„Können wir nicht auch einen Gastschüler aus Amerika nehmen?“ Alexandra war aufgewacht und las am Frühstückstisch ein Taschenbuch Der Uni-Roman. Sie las eigentlich nie, aber natürlich jetzt beim gemeinsamen Frühstück. Drinnen spielte ihre Musik, trotzdem war sie draußen mehr als deutlich zu hören. Gerrit würde seine Hinweisschildchen bald umformulieren, da war sich Paul sehr sicher. Er fühlte sich wie zu Hause. Auch hier spielte die ewig gleiche, laute Musik. Warum nicht wenigstens einmal Eve of Destruction oder wenigstens Call Me Number 1 von den Tremeloes? Paul kannte die elterliche Antwort auf Alexandras Frage. Sie lautete eher 'nicht' als 'auch', um die Worte von Alexandra zu gebrauchen. Er überließ die Beantwortung aber lieber seiner Frau.

„Wer nimmt auch einen Gastschüler?“ Claudias Gegenfragetechnik!
„Keiner, den ich kenne. Ich wollte nur wissen, ob wir einen nehmen können?“
„Einer kommt sowieso gar nicht in Frage!“ Claudia betonte das ‚einer’, um deutlich zum Ausdruck zu bringen, dass sie sowieso niemanden für ein Jahr aufnehmen würden und erst recht keinen jungen Mann!
„Mama, ich mein ne Schülerin!“
„Hast du aber nicht gesagt!“
Paul sah die Stimmung kippen und bemühte sich, eine weniger ernste Note ins Gespräch zu bringen: „Wenn unsere Tochter dafür im Austausch noch einmal ein Jahr nach Amerika geht, können wir ja mal drüber nachdenken. Oder? Was meinst Du, mein Schatz?“
Aber Claudia hatte sich hochgefahren: „Erstens haben wir kein Zimmer für eine weitere Person und zweitens müsste Alexandra sich um sie kümmern - ein Jahr lang. Wenn ihre Cousins zu Besuch kommen, ist sie dazu nicht einmal zwei Stunden bereit!“ Claudia ging immer schnell zum Gegenangriff über.
„Mama, man kann eine Schülerin auch für drei Monate nehmen. Ich werde mich schon kümmern und ihr klarmachen, wie es bei uns läuft!“ Alexandra spielte die Autoritätsperson.
„Das kannst du später bei deinen eigenen Kindern machen. Ich hoffe aber, du wirst sie nicht so autoritär erziehen, sondern liberal!“
„Ich erzieh sie nicht autoritär, nicht antiautoritär und auch nicht liberal, wie du das nennst. Ich erzieh sie global.“

Paul lachte. Das war gut! Die Globalisierung war in aller Munde und für Alexandra war das Wort nicht negativ besetzt, sondern gedanklich verbunden mit Reisen um die Welt, ihr eigenes High School Jahr in Wichita/Kansas, Paris Hilton, dem Internet und eben Gastschülern aus Amerika. Mit dem Wort liberal und seiner Bedeutung konnte Alexandra dagegen so wenig anfangen, wie der Großteil der heutigen Jugend. Wozu auch? Sie konnten lange schlafen, während ihre Eltern auf sie warteten. Sie konnten beim Frühstück lesen und laut Musik hören. Alles kein Problem. Liberalität war nichts, worum sich diese Jugend Gedanken machen, geschweige denn, wofür sie sich einsetzen müsste. Sie verfügte über alle Freiheiten im Überfluss und sehnte sich sogar nach etwas Autorität. Nicht ohne Grund gaben Jugendliche, befragt nach ihrem Berufswunsch, am häufigsten Polizist an. Das wäre zu seiner Zeit ganz undenkbar gewesen und auch jetzt hatte Paul bei dem Gedanken an die Polizei kein so ganz gutes Gefühl.

Paul hatte nach Frühstück und Abwasch zuerst Claudia verarztet. Eine ewig lange Fußmassage war gefragt, vorsorglich gleich für beide Füße, obwohl nur die rechte Ferse betroffen war. Dann das Einreiben mit Mobilat. Wo hatte sie das her? Eine straffe Bandage. Die Binde hatte er aus dem Verbandkasten des Autos geholt. Er war zufrieden, das erste Mal in seinem Leben etwas aus dem Verbandkasten gebrauchen zu können. Wie viel ihn die vielen, alle Jahre wieder zu erneuernden Kästen schon gekostet hatten, darüber wollte er nicht weiter nachdenken. Dann noch einen Becher von Claudias geliebtem Rotbuschtee Orange, der immer acht Minuten ziehen musste. Und das Taschenbuch bitte noch. Paul las den Titel: Der Kindersammler. Und eine Decke. Die Terrasse lag jetzt im Schatten. Claudia ließ sich bedienen. Sie genoss ihre Achillesferse ganz offensichtlich. Anschließend kam Alexandra an die Reihe, die sich jetzt nicht wie geplant mit ihrer Mutter zum Bummel durch die Geschäfte des Ortes aufmachen konnte.


Unterwegs-mit-dem-Ruderboot

Paul und Alexandra (beide nicht im Bild) unterwegs mit dem Ruderboot.


Nachdem er mit Alexandra ausgiebig das Ruderboot ‚eingeweiht’ hatte, ging er in den Schuppen und suchte sich ein Fahrrad aus. Ein Schild verriet den Preis: FAHRRADVERLEIH / Fietsverhuur 7,50 € pro Tag 35,00 € pro Woche. Mein lieber Gerrit, dachte Paul. Das sind ja Preise. Aber das Rad war perfekt und er war zufrieden. Er fuhr los. Unterwegs ging ihm das Wort verhuur nicht aus dem Kopf. Jetzt wusste er, warum die Damen von der Herbertstraße Huren genannt wurden. Im Ort kaufte er eine Wandel- & Fietskaart van Den Helder tot Amsterdam. Das Wort tot irritierte ihn. Froh war er, dass bei seinen Großeltern in Heide, Dithmarschen, früher Plattdütsch gesprochen wurde. Er selbst konnte es nicht sprechen, aber verstehen. Holländisch schien ihm verwandt. De Streekkaart voor Vakantie en vrije tijd - Die Streckenkarte für Urlaub und Freizeit. Er faltete die Karte auf. War es Zufall oder wollte ihm die Karte den Weg weisen? Sein erster Blick fiel auf den Ort, den er jetzt aufsuchen würde - Bergen.

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Tour de France

Kapitel 7 - 13. Juni 2007


Fahrradfahrer, Fahrradfahrer, Fahrradfahrer. Paul staunte. So viele Fahrradfahrer hatte er seit ihrem Urlaub in Südfrankreich nicht mehr gesehen.


Paul-auf-dem-Weg-nach-Bergen

Paul stieg hier und da vom Rad, um ein Foto zu schießen.


Damals hatte er Claudia und Alexandra tagelang in den Ohren gelegen. Er wollte unbedingt die Tour de France miterleben, seine Damen, Alexandra war zu jener Zeit erst sechs Jahre alt gewesen, weigerten sich mitzukommen. Sie wollten partout noch einmal zur großen Düne, in deren Nähe sie mit ihrem gemieteten Wohnmobil Quartier aufgeschlagen hatten. Paul musste schließlich allein zur Tour. Allein ihre Utensilien, vor allem die in der Miniküche, so verstauen, dass sie sich während seiner Fahrt nicht verselbstständigen konnten. Er musste allein das sperrige Mobil durch die eng stehenden Kiefernstämme des Campingplatzes manövrieren und dann allein Verkehr und Landkarte gleichzeitig im Blick behalten.

Prompt verfuhr er sich gleich mehrmals und hatte die Orientierung bereits verloren, als er von fern zwei Helikopter hörte und schnell näher kommen sah. Seine Logik funktionierte besser als sein Orientierungssinn. Von den TV-Übertragungen wusste er, dass jede Tour-Etappe von mehreren Motorradkameras aber auch von Kameras aus der Luft übertragen wird. Würden sich die Hubschrauber in gleicher Richtung und mit gleichem Tempo fortbewegen, hatte er nicht mehr viel Zeit zu verlieren. Waghalsig hatte er das Mobil auf der schmalen Straße gewendet. Beinahe wäre er mit den durchdrehenden Hinterrädern aus dem sandigen Feldweg nicht wieder herausgekommen, in den er zurückgesetzt hatte. Bei dem Gedanken daran hatte Paul auch jetzt wieder den Gestank der Kupplung in Erinnerung, die sie wenige Tage darauf zwang, eine französische Werkstatt aufzusuchen.

Nach einer Rechtkurve und noch einmal fünfhundert Metern kam er nicht weiter. Es war abgesperrt. In einiger Entfernung sah er Zuschauer, nicht viel mehr als zwanzig an der Zahl. Die Hubschrauber waren jetzt direkt über ihnen und verursachten einen Höllenlärm. Paul schloss das Mobil ab und rannte los, so schnell er konnte. Als er die größere Querstraße erreicht hatte, sah er einen Pulk sich entfernender Trikots. Sie bewegten sich langsam, mit nicht mehr als 25 Stundenkilometern. Die Zuschauer begannen, den Ort des Geschehens zu verlassen. Paul wartete. Er keuchte immer noch. Das konnte unmöglich alles gewesen sein. Aber es kamen nicht einmal mehr irgendwelche Begleitfahrzeuge. Die Story hatte Claudia und Alexandra köstlich amüsiert. Sie hatte in all den Jahren immer wieder für gute Stimmung auf Partys und Familientreffen gesorgt. Damals hatte sich Paul geschworen, nie wieder zu spät zu kommen.

Heute hatte Paul alle Zeit der Welt. Die sieben Kilometer lange Strecke von Broek op Langedijk über Koedijk und Zanegeest nach Bergen legte er gemütlich in einer knappen halbe Stunde zurück. Er überlegte, wie er vorgehen sollte. Nun ist Bergen kein besonders großer Ort und er entschloss sich, ihn komplett abzufahren, sich vorsorglich alle Straßen und jedes einzelne Hotel einmal anzusehen. Seine Digitalkamera hatte er mitgenommen. Er war guter Dinge. Die Fahrradtour bei Sonnenschein und leichtem, angenehmem Wind hatte seinen Kopf freigepustet. Deshalb machte es ihm auch nichts aus, dass er vergeblich nach einem Fremdenverkehrsbüro Ausschau hielt. Es sollte sich im 4,5 Kilometer entfernten Bergen aan Zee befinden, einer Nachbargemeinde oder einem anderen Ortsteil? Paul wusste es nicht. Es war ihm auch egal. Er befragte kurz seine Wandel- & Fietskaart, überlegte nicht lange und fuhr weiter, Richtung Nordsee, die Eeuwigelaan und den Zeeweg entlang.

Beim Radeln kam ihm die Eeuwigelaan gar nicht so ewig lang vor. Parallel zur Straße führte der Radweg durch Schatten spendenden Laubwald, vorbei an noblen Villen auf riesigen Grundstücken, vergleichbar den Anwesen an der Elbchausse in Hamburg. Ihre Eigentümer mussten unverschämt reich sein. Solche Vermögen konnten sie nicht mit ihrer Hände Arbeit angehäuft haben. Der Baumbestand war so dicht, dass die Autos ihre Scheinwerfer eingeschaltet hatten. Paul wurde es fast ein wenig zu kühl. Viel schwerer als die Eeuwigelaan fiel Paul der Zeeweg, der sich über die Dünen schlängelte. Das kilometerlange Auf und Ab war nicht nur anstrengend, es kam für Paul total überraschend. Das hatte er im ansonsten flachen Nordholland überhaupt nicht erwartet. Erschwerend kam hinzu, dass der Gegenwind spürbar zunahm, je näher er der Nordsee kam. Westwind. Paul hatte ganz vergessen, sich etwas zu trinken mitzunehmen.

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Michi

Kapitel 8 - 13. Juni 2007


Ewig lange hatte Paul seinen alten Kumpel und Arbeitskollegen nicht mehr gesprochen gehabt. Seitdem dieser das Angebot der Firma angenommen hatte und nach Frankfurt in die Zentrale gewechselt war, wurden ihre Telefonate immer seltener.

„Hallo Michi! Hier Paul! Paul! Paul Sommer, aus dem hohen Norden!“
„Mensch Paul, altes Haus, wie gehts?“
„Danke, sehr gut und dir? Wie läufts in Frankfurt? Was macht das Liebesleben?“
„Kennst mich ja. Bei der vielen Arbeit bleibt dafür doch gar keine Zeit.“ Paul hörte Michaels schelmisches Grinsen förmlich durch die Telefonleitung.

Paul hatte miterlebt, wie Michaels Ehe in die Brüche ging. Michael kam das Jobangebot aus Frankfurt damals sogar sehr gelegen. Nicht nur wegen seiner zerrütteten Ehe. Nicht nur, weil sein Arbeitsplatz in Hamburg, wie viele andere auch, abgebaut wurde. Sondern weil der Grund für seine Eheprobleme mit nach Frankfurt wechselte: Tatjana Weber, damals 30 Jahre junge Chefsekretärin. Genauer: Sekretärin ihres gemeinsamen Chefs. Michael hatte mit dieser Romanze nicht nur seine Ehe, sondern auch gleich noch seinen guten Job riskiert. Aber es war gut gegangen. Nicht das mit seiner Ehe, aber jobmäßig hatte er sich sogar noch etwas verbessert. Aus der Romanze mit Tatjana war inzwischen Freundschaft geworden. Paul kannte Michael gut und er ahnte, dass Michael und Tatjana wohl eher eine dauerhaft ‚romantische’ Freundschaft pflegten.

„Was kann ich für dich tun, Paul?“
„Danke Michi, ich ruf wirklich nur mal so an, ohne besonderen Grund. Was macht die Eintracht. Der Takahara hat bei euch ja doch noch das Toreschießen gelernt. Wie gehts Tatjana?“
„Der heißt bei uns inzwischen Sushi-Bomber. Schießt jedes Spiel mindestens ein Tor. Wie konnte der HSV solch ein Juwel nur gehen lassen?"
"Lasst uns bitte nicht über diesen Club sprechen. Wie gehts Tatjana?"
"Oh, weiß nicht. Ich glaub, es geht ihr gut. Buschmann fährt im Juni ein paar Tage auf Dienstreise, hält in Amsterdam wieder einen seiner berühmten Vorträge. Internationaler Kongress zum Thema HR-Management in Zeiten der Globalisierung oder so. Stell dir vor, er fährt ohne seinen Chauffeur und nächtigt in einem Hotel in Bergen!“ Paul kannte Michaels Hintergedanken! Typisch!
„Fährt er immer noch seinen Firmen-Jaguar?“
„Ja, auch der neue ist wieder schwarz. Im Vertrauen: 220.000 Euro! Doch das ist gar nicht der Punkt! Der Punkt ist, dass es irgendwann mal einer versucht. Peng! Aber dann leider scheitert. Der Jaguar ist gepanzert! Seine Frau soll darauf bestanden haben.“ Michi war wie immer zu Scherzen aufgelegt.
„Dann hat Tatjana ja Zeit für Dich. Wo fahrt ihr denn hin?“
„Das ist doch noch lange hin. Und wir fahren wirklich nur am Wochenende! Nach Paris, Saint Germain.“

Das war Anfang Mai gewesen.

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Aan Zee

Kapitel 9 - 13. Juni 2007


Paul verließ das Fremdenverkehrsbüro und ließ das Fahrrad kurzerhand stehen. Er hatte 11,5 Kilometer zurückgelegt bei Nullkommanull CO2-Ausstoß. (Dass auch der nicht Auto fahrende Mensch mit dem eigenen Atem CO2 freisetzt, daran hatte er in diesem Moment nicht gedacht.) Er war mächtig stolz auf sich und gönnte sich auf der Terrasse vom Strandrestaurant ein Bier, dessen Größe ihn in Erstaunen versetzte. Das gehört wirklich mit Lupe serviert, ärgerte er sich. 0,2 cl – unglaublich!

In ihrem Schwedenurlaub hatte er vor Jahren im Supermarkt Spirituosenflaschen fotografiert, die in Originalgröße im Regal standen aber nur zu einem Viertel gefüllt waren. Paul hatte zunächst einen Alkoholiker unter dem Verkaufspersonal in Verdacht gehabt. Aber das musste mit der Gesetzgebung oder dem Steuersystem in Schweden zu tun haben. Die schwedischen Preise hatten jedenfalls 'Originalgröße'. Sein holländisches Bierglas war zwar bis zum Rand gefüllt, aber so klein, wie er es nicht für möglich gehalten hätte. Für den Größenvergleich lehnte er ein 2-Euro-Stück an das Glas und schoss ein Foto: Im Vordergrund wenig Bier, eine 2-Euro-Münze, seine Wandel- & Fietskaart, ein Stadtplan von Bergen, ein Hotelverzeichnis und im Hintergrund viel Nordsee.


Paul-an-der-Nordsee

Die Nordsee zeigte sich Paul von ihrer schönsten Seite


Bergen aan Zee hatte außer dem Fremdenverkehrsbüro, seinem schönen Strand und den Strandcafes nicht viel zu bieten. Eigentlich gar nichts, dachte Paul. Vielleicht noch das Seeaquarium, an dem er vorbei gegangen war. Das Minibier nicht zu vergessen, wo gab es so etwas schon. Ein weiteres bemerkenswertes Detail erkannte Paul, als er zu seinem Fahrrad zurückkam. Zufällig schaute er auf den Parkgebühren-Automaten, neben dem er sein Fahrrad geparkt hatte. Die Gebühr für eine Stunde Parken betrug 1,23 €! Nicht 1,00 €, nicht 1,50 €, nicht einmal 1,20 €, sondern 1,23 €! Und auch noch drei ungerade Ziffern in einer kleinen Parkgebühr! Das beschäftigte Paul. Wer mochte nur auf diesen Einfall gekommen sein? In Deutschland drohte jedem gleichermaßen kreativen Mitarbeiter, der auch noch die Unverfrorenheit, den Mut oder die Naivität besaß, solche Vorschläge zu unterbreiten, ganz schnell die Arbeitslosigkeit.

Es war bereits 17 Uhr 20, was Paul im ersten Moment verwunderte. Dann fiel ihm ein, dass sie erst um 11 Uhr mit dem Frühstück begonnen hatten. Um 20 Uhr, so hatte er versprochen, wollte er zurück sein in Broek op Langedijk. Er kalkulierte eine volle Stunde Fahrtzeit ein - trotz zu erwartendem Rückenwind vorsichtshalber etwas mehr als er für die Herfahrt gebraucht hatte. Blieben ihm für Bergen nur gut 1 ½ Stunden. Pauls Zeitplanung entspannte sich, als er das Hotelverzeichnis studierte und feststellte, dass es in Bergen weniger Hotels gab als er angenommen hatte. Unter ihnen nur ein einziges 5-Sterne- und auch nur ein 4-Sterne-Hotel, das Bosvrede und das Best-Western Hotel Marijke. Die beiden wollte er sich noch ansehen.

Während das 4-Sterne Best Western Marijke im Zentrum von Bergen direkt an der Dorpsstraat lag und Paul nicht besonders gefiel, war das Bosvrede im Nordwesten der Stadt in den Wald hinein gebaut. Es war wunderschön gelegen. Mit seinen 22 Zimmern und zehn Suiten war es klein, ja fast intim und vor allem - abgelegen. Es war umgeben von einem zum Hotel gehörenden elf Hektar großen, bewaldeten Dünengebiet. Paul war sich am Nachmittag sofort sicher gewesen, das ‚richtige’ Hotel gefunden zu haben. Er war vom Wind zerzaust und in Freizeitklamotten vom Fahrrad gestiegen. So wollte er das Hotel nicht betreten. Er hätte sowieso nicht mehr ausreichend Zeit gehabt, es von innen zu erkunden. Das hatte er sich für seinen nächsten Besuch vorgenommen.

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Grundsatzdiskussion

Kapitel 10 - 13. Juni 2007


Claudia deckte den Tisch ab. Sie war nicht gut drauf. Paul war erst mit zehnminütiger Verspätung zurückgekehrt. Die Spaghetti waren nicht mehr al dente und da sie sonst auch noch kalt geworden wären, hatten seine Damen bereits mit dem Essen begonnen. Jetzt fegte er die Räume und Alexandra wandte sich ihrem Lap zu. Paul brauchte nur in Claudias Gesicht zu blicken, um zu wissen, dass ein Gewitter bevorstand. Er wusste auch, dass es sich an ganz anderer Stelle entladen würde. So war es bei Claudia immer. Die anstehende Auseinandersetzung würde sich nicht um die Verspätung drehen. Zehn Minuten waren ja auch kaum der Rede wert. Es würde auch nicht um ihre dick gewordene Ferse gehen. Es gab in einer solchen Situation keine Möglichkeit, dem Gewitter zu entkommen oder es gar abzuwenden. Schade, er hatte gehofft, sie würden ihren ersten Urlaubsabend ganz gemütlich und bei guter Stimmung verbringen. Es traf ganz unverhofft Alexandra.

„Könntest du dich an den allgemeinen Aufgaben bitte auch Mal beteiligen?“
Was soll ich bitte tun?“ Alexandra versuchte sich auch ab und zu in der Gegenfragetechnik, beherrschte sie aber noch nicht im Geringsten.
„Zum Beispiel abwaschen!“ Sie hatten leider keinen Geschirrspüler vorgefunden.
„Hab ich heut Morgen schon gemacht!“
„Ich meinte das auch grundsätzlich!“
Alexandra: “Jetzt beginnt Mama wieder eine ihrer Grundsatzdiskussionen!“

Das Gewitter zwischen seinen Damen war jedes Mal reinigend. Für Gewitter zwischen Claudia und ihm ließ sich das leider nicht behaupten. Von daher war es gut, dass es sich heute an Alexandra entladen hatte. Deshalb brauchte Paul kein schlechtes Gewissen zu haben. In einer halben Stunde würden Claudia und Alexandra einträchtig vor dem Fernseher sitzen und Let’s dance gucken. Das war eine dieser modernen Promi-Sendungen. Prominente konnten Tanzen, Turmspringen, im Gefängnis sitzen oder sonstige Belanglosigkeiten vollführen. Mit Kerkeling, Raab, Klum oder Pocher war ihnen ein Millionenpublikum sicher. Paul hatte dafür kein Verständnis. Seine beiden Damen waren immer dabei. Paul selbst schaute vielleicht ab und zu ein Fußballspiel, aber auch das nicht mehr so regelmäßig wie früher. Pauls Freizeitplanung richtete sich seit Jahren nach dem Fernsehprogramm und den Fernsehgewohnheiten seiner Familie.

So auch heute. Ab 21 Uhr 15 würde er sich einen Lap schnappen und die Wohnung verlassen. Morgen wollte er wieder ein paar Kalorien verbrennen. Für übermorgen konnte er sich nichts vornehmen. Alexandra hatte in den USA auf der High School eine Schülerin aus Amsterdam kennen gelernt, mit der sie sich am Freitag den neuen Harry Potter-Film ansehen wollte, auf Englisch. Ohne Alexandra musste er damit rechnen, dass Claudia ihn verplanen würde oder bereits verplant hatte - Kaffeetrinken an der Nordsee, Abendessen in Amsterdam und natürlich Alexandra des nachts abholen. Alexandra konnte sich ein Jahr vollkommen vogelfrei und ohne Schaden zu nehmen in den Vereinigten Staaten bewegen: Wichita, Kansas City, Oklahoma City, Dallas. Von Amsterdam würde sie die paar Kilometer nach Broek op Langedijk - es waren keinesfalls mehr als vier oder fünf Bahnstationen - unmöglich allein zurücklegen. Sie würden sie natürlich abholen.

In der kommenden Woche würde Paul mehr Zeit für sich benötigen.

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Eine Art Vorwort

Ich musste doch noch einmal unterbrechen, allen Mut zusammen- und innerlich Anlauf nehmen. Es ist nicht nur der Umfang der Aufgabe, der mich stocken lässt, sondern auch die Aussicht darauf, dass das Schreiben in mir alles wieder aufwühlen wird. Doch dieser Einwand ist vorgeschoben, das muss ich eingestehen. Schließlich kann nicht aufgewühlt werden, was noch immer aufgewühlt ist, was sowieso Tag und Nacht in mir brodelt. Ich muss Abstand gewinnen!

Es ist Pauls erstes Buch. Paul verfügt über keine theoretischen Kenntnisse, wie ein Kriminalroman aufgebaut sein sollte, keine besonderen Schreibtechniken. Er ist kein Journalist. Zudem ist er schon 53 Jahre alt. Seine Rechtschreibkenntnisse, die vor dem Hin und Her der Rechtschreibreform ganz ordentlich waren, sind nur noch die Hälfte wert, höchstens. Der Duden wird sein ständiger Begleiter sein. Sie sollten nachsichtig mit ihm umgehen. Hinzu kommt sein bisweilen etwas langatmiger Stil, mit dem er dem ganzen Geschehen die tatsächliche Dramatik nehmen will. Er kann es so leichter ertragen. Ein instinktiver Reflex. Vielleicht wird ihm das Aufschreiben guttun, vielleicht wird es ihm helfen, die Dinge zu verarbeiten und wieder etwas Ruhe zu finden. Vielleicht hilft es ihm auch, wenn Sie ihm hin und wieder ein paar Zeilen schreiben. Feedback und Aufmunterung werden nicht schaden, besonders dann, wenn er einmal in ein Loch fallen sollte und eine Weile nichts von sich hören lässt. Ja, vor der Schreibblockade graust ihm auch.

Doch jetzt sollte er alle Bedenken zur Seite schieben und frisch ans Werk gehen. "Alles Gute, Paul!"

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Moin, ich bin Paul!

Mit 53 Jahren ist es mir gelungen, ein Haus zu bauen (naja, Eigentumswohnung in Quickborn), ein Kind zu zeugen (Alexandra, 18 Jahre) und einen Baum zu pflanzen (Apfelbaum im Garten eines Bekannten). Ja, es fehlt das Buch! Erst war es die viele Arbeit, die mich abhielt, dann die Familie. Immerhin konnte ich im Laufe der Jahre gedankliche Vorarbeiten abschließen: Mein Buch sollte spannend (schön wäre ein Kriminalroman) und autobiografisch werden (mir fehlt die Phantasie, mir so etwas auszudenken), was in dieser Kombination zu weiterer Verzögerung führte. Mein Leben verlief bis vor einigen Monaten alles andere als spannend. Ich bin (war) zudem hochgradig gesetzestreu und meide Menschen im Allgemeinen und zwielichtige Gestalten im Besonderen. Ungünstige Vorzeichen für einen spannenden und dazu autobiografischen Krimitext. Im Frühjahr, parallel zur aufkommenden Klimakatastrophendebatte, änderte sich für Paul die Großwetterlage. Rückwirkend und mit Abstand betrachtet, der mir nur sehr bedingt möglich ist und immer noch sehr schwer fällt, lässt sich der Anfang meiner persönlichen Katastrophe auf den Mai datieren. Nur wenige Wochen danach beginnt mein persönlicher Kriminalroman. Haben sie Verständnis: Es ist mir emotional nicht möglich, in der Ersten Person zu schreiben. Egal, ob Singular oder Plural. Ich erzähle also Pauls Geschichte. Sie beginnt an einem Dreizehnten. Es war der 13. Juni 2007. Doch lesen sie selbst.

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Paul

Outplacement (Kriminalroman)

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Sie lesen

in meinem autobiografischen Kriminalroman, der sich seit dem 30. Oktober 2007 in Arbeit befindet. (Sollte Ihre Startseite nur ein Kapitel des Romans zeigen, klicken Sie bitte oben auf PAUL.) Für mich geht es beim Schreiben in erster Linie darum, die Geschehnisse der letzten Monate aufzuarbeiten, soweit dieses überhaupt möglich sein wird. Ich möchte hier nichts beschönigen, nichts zu erklären versuchen, mich weder rechtfertigen noch selbstbezichtigen, sondern Abstand gewinnen. Zeit zum Schreiben habe ich in diesen Tagen und Wochen weiß Gott genug. Er möge mir auch die nötige Kraft und Hoffnung geben, um den Roman und mein Leben zu einem guten Ende zu bringen. Der Gedanke daran, dass Sie und andere Leser an meinem Schicksal teilnehmen, ist tröstlich und hilfreich. Ich danke Ihnen!

Was erwartet Sie?

Ohne zuviel vorwegzunehmen: Sicherlich keine leichte Unterhaltung! Aus der Sicht desjenigen, der die Geschichte durchlebt hat, kann von 'leicht' keine Rede sein. Es geht um Hörstürze, Arbeitsplatzverlust, Aufhebungsvertrag, Midlife-Krise, Globalisierung, Outsourcing, Outplacement und Sozialabbau. Aber auch um eine kritische Grundeinstellung und eine recht unglückliche Kettenreaktion. Paul war Personalleiter mit viel Sympathie für Betriebsräte und Arbeitnehmerinteres- sen. Sie erfahren ganz viel über Paul, seine Familie, sein Lieblingsland Italien, seine Urlaubsreisen, Holland, Indien, Japan, China, das Go-Spiel, Hamburg, die Alster und 'seinen' HSV, Schleswig-Holstein, Quickborn, die Bee Gees und, ob Sie wollen oder nicht, über die 'gute' alte Zeit.

INHALT (bisher)


Moin, ich bin Paul!

Eine Art Vorwort ...

1 Ausblick ........... 2 Frühstückstisch ... 3 Ins Netz gegangen 4 Die Achillesferse . 5 Das Mittelmeer ... 6 Gastschüler ....... 7 Tour de France ... 8 Michi ............... 9 Aan Zee ........... 10 Grundsatz- diskussion ........... 11 Der Kongress .... 12 Die Macher ...... 13 Bergen ........... 14 Wilhemminalaan 15 InterRail ......... 16 Für Marijke ...... 17 Die Kernspaltung 18 Personal- management ........ 19 Simmungs- schwankung ......... 20 Die Referenten .. 21 Gmail ............. 22 Die Biografie .... 23 An der Alster ..... 24 Das Hotel ......... 25 Global ............ 26 Das Aquarium .... 27 Die Enten ......... 28 Die Fütterung .... 29 Purismus .......... 30 Hochsitze ....... 31 Eine richtige Familie ............... 32 Tönning .......... 33 Jojo .............. 34 Fußball ............ 35 Café au lait ...... 36 Führungs- grundsätze ........... 37 Uganda ............ 38 Im Internet ....... 39 Volendam ......... 40 Das Abendblatt .. 41 SONY ............. 42 Der Schwindel ... 43 Camcorder ....... 44 Die Einstellung ... 45 Piazza dei Miracoli .............. 46 Go ................. 47 Der Mensch ....... 48 Der Anruf ......... 49 Im Laufschritt .... 50 Besinnung ........ 51 Alles OK .......... 52 Positives Denken 53 Die Bootsfahrt ... 54 Indien.............. 55 Ein Traum ........ 56 Königsberger Klopse ................ 57 Negativ ........... 58 Bella Napoli ...... 59 Schizophrenie ... 60 Der Einkauf ...... 61 Betriebliche Altersversorgung .... 62 Durchgang verboten ............. 63 Finanzamt Elmshorn ............. 64 Woodstock ....... 65 Der letzte Tag ... 66 Im Wald .......... 67 Das Gespräch .... 68 Die Mutprobe .... 69 Die Bee Gees .... 70 Goede namiddag!
FORTSETZUNG FOLGT

Aktuelle Beiträge

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Ich fürchte ein Blog ist nicht unbedingt das richtige...
Aurisa - 30. Aug, 13:02
Die Bee Gees
Kapitel 69 - 18. Juni 2007 Um sich abzuspannen,...
wortmeldung - 12. Jul, 12:53

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PAULS TOP 18 (Singles alphabetisch sortiert)

Assembly
Never Never

Badfinger
Baby Blue

Bee Gees
The Only Love

Golden Earing
When The Lady Smiles

John Fogerty
Rock And Roll Girl

Journey
Faithfully

Lake
Do I Love You

Manfred Mann
You Angel You

Marc Anthony
You Sang To Me

Mink DeVille
Each Word's A Beat Of My Heart

O-Town
These Are The Days

Paper Lace
Love Song

Peter Gabriel
Solsbury Hill

Queen
I Want To Break Free

Stevie Nicks
Talk To Me

Train
Drops Of Jupiter

Tremeloes
(Call Me) Number One

White Lion
You're All I Need

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