Ausblick
Kapitel 1 - 13. Juni 2007
Der schnurgerade Wasserlauf bildete hier, an seiner Biegung, eine Ausbuchtung von fünfzig Metern Durchmesser wie einen von der Natur geschaffenen See. Nur wenige Meter entfernt streckten Wasserpflanzen ihre gelben Blüten gen Himmel. Am gegenüberliegenden Ufer befand sich der Friedhof des kleinen Ortes versteckt hinter einem begrünten Wall, einer Reihe von Büschen, von Lärchen und zwei größeren Trauerweiden, die ihre unteren Zweige ins Wasser hängen ließen. Trauerweiden, wie passend, dachte Paul. Vier Enten gründelten dort drüben zwischen den Seerosen. Wenn ein Fisch an die Wasseroberfläche schnellte, vernahm er ein ganz leises Platschen und beobachtete die kleinen sich ringförmig ausbreitenden und auslaufenden Wellen.
Jeder Mensch trägt einen versteckten Friedhof in sich, hatte ein Arzt im Universitätsklinikum Eppendorf vor Jahren einmal zu ihm gesagt. Paul hatte nicht sogleich verstanden. Er beteuerte aufrichtig, keine Leichen im Keller zu haben. Mit mildem Lächeln und spürbar von oben herab - einer von vielen Gründen, warum er die Ärzte und Doktoren seitdem mied wie die Pest - wurde ihm erklärt, dass der innere Friedhof keine selbstverschuldeten Vorkommnisse des Lebens verstecke, sondern erlittene. Tief begraben lägen unverarbeitete Kränkungen, Zeiten tief empfundener Lieblosigkeiten oder schockierende Erlebnisse. Diese traumatischen Lebenseindrücke wären zwar zugeschüttet und oberflächlich vergessen, sozusagen unsichtbar für das alltägliche Bewusstsein, deshalb aber keineswegs bedeutungslos. Aus ihren Grabstellen gingen sie auf Wanderschaft, jederzeit mächtig genug, um in bestimmten Momenten entscheidenden Einfluss auf das Leben zu nehmen. Sie könnten Jahre später verantwortlich sein für Verhaltensauffälligkeiten. Ja, sie könnten sogar schwerste Krankheiten auslösen. Der Arzt hatte sich natürlich anders ausgedrückt, so als wollte er sein jahrelanges Studium in fünf Minuten zusammenfassen: Somatofone Dissoziation; psychovegetative Dekompensation; Agoraphobie; unintegrierte, sensorische, motorische, viszerale und emotionale Reinszenierung traumatischer Erfahrungen.
Die Aneinanderreihung lateinischer Fachausdrücke hatte Paul mehr irritiert als überzeugt. Zudem hatte der Mann in weißem Kittel ganz allgemein und wie von einer neutralen dritten Person gesprochen. Jeder Mensch, war speziell er damit gemeint? Als der Arzt anfing, Pauls Schwindel im medizinischen Sinne als wahrgenommene Scheinbewegung zwischen ihm und seiner Umwelt zu definieren, wollte Paul zwar den Glauben an die moderne Medizin nicht ganz aufgeben, aber den an den Mediziner hatte er endgültig verloren. Er konnte mit dessen ärztlicher Theorie nichts anfangen, zumal sie keinerlei Bezug zu seinen damaligen Befindlichkeitsstörungen aufwies. Für seine wiederkehrenden Gleichgewichtsstörungen konnte der Arzt, wie alle anderen von Paul aufgesuchten Fachleute, weder eine organische Ursache noch eine ihm einleuchtende Erklärung finden. Damals wie heute war Paul sich sehr sicher, dass er niemand war, der Vergangenheitsbewältigung per innerer Beerdigung betrieb. Er hielt sich für einen Menschen, der Probleme rational verarbeitete, für einen Mann der klaren Gedanken und strukturierten Denkweise. Sogar seine Chefs hatten ihm Selbstkontrolle, Konflikt- und Problemlösungspotential bescheinigt, wie es heutzutage so schön heißt. Bei ihm konnte sich gar nichts ansammeln und aufstauen.
Paul sah eine einzelne weiße Wolke, sie löste sich langsam auf. Am Horizont zeigte sich ihm eine der holländischen Windmühlen. Die Felder schienen unbewirtschaftet oder bereits abgeerntet. Paul zählte vier baugleiche Ruderboote, jedes etwa vier Meter lang, unten schwarz und oben grün gestrichen, mit rotbrauner Oberkante und grauen Innenseiten. Jedes sehr gut geeignet für eine beschauliche Fahrt durch die Grachten, vorbei an holländischer Idylle, kleinen Häuschen und lieblichen Gärten. Eines der Boote war an den Pfahl gebunden, der mit drei weiteren die Dachterrasse der Ferienwohnung trug, die über ihrem Apartment lag. Paul atmete mehrmals tief durch, tief in den Bauch hinein. Er empfand ein angenehmes Gefühl von Ruhe und Wärme. Die Weltformel, nach der die Wissenschaftler seit Einstein suchten, verwirklichte sich für ihn in diesem friedlichen Bild, das er vor sich sah. Ebenes Land, gerade, parallel verlaufende Wasserstraßen, ein blauer Himmel, der sich im blauen Wasser spiegelte, vier Enten und vier Boote. Er liebte seit je her die klaren geometrischen Formen und die geraden Zahlen. Seine Lieblingszahl war die acht. Legte man sie auf die Seite, ergab sie das mathematische Zeichen für unendlich. Der eigentliche Grund für seine Entspannung war jedoch, dass er sich zur richtigen Zeit am rechten Ort wähnte. Die nahen und deshalb ungewohnt lauten Kirchenglocken weckten ihn aus seiner Träumerei.
Pauls Ausblick von der Terrasse des Ferienapartments in Holland.
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Der schnurgerade Wasserlauf bildete hier, an seiner Biegung, eine Ausbuchtung von fünfzig Metern Durchmesser wie einen von der Natur geschaffenen See. Nur wenige Meter entfernt streckten Wasserpflanzen ihre gelben Blüten gen Himmel. Am gegenüberliegenden Ufer befand sich der Friedhof des kleinen Ortes versteckt hinter einem begrünten Wall, einer Reihe von Büschen, von Lärchen und zwei größeren Trauerweiden, die ihre unteren Zweige ins Wasser hängen ließen. Trauerweiden, wie passend, dachte Paul. Vier Enten gründelten dort drüben zwischen den Seerosen. Wenn ein Fisch an die Wasseroberfläche schnellte, vernahm er ein ganz leises Platschen und beobachtete die kleinen sich ringförmig ausbreitenden und auslaufenden Wellen.
Jeder Mensch trägt einen versteckten Friedhof in sich, hatte ein Arzt im Universitätsklinikum Eppendorf vor Jahren einmal zu ihm gesagt. Paul hatte nicht sogleich verstanden. Er beteuerte aufrichtig, keine Leichen im Keller zu haben. Mit mildem Lächeln und spürbar von oben herab - einer von vielen Gründen, warum er die Ärzte und Doktoren seitdem mied wie die Pest - wurde ihm erklärt, dass der innere Friedhof keine selbstverschuldeten Vorkommnisse des Lebens verstecke, sondern erlittene. Tief begraben lägen unverarbeitete Kränkungen, Zeiten tief empfundener Lieblosigkeiten oder schockierende Erlebnisse. Diese traumatischen Lebenseindrücke wären zwar zugeschüttet und oberflächlich vergessen, sozusagen unsichtbar für das alltägliche Bewusstsein, deshalb aber keineswegs bedeutungslos. Aus ihren Grabstellen gingen sie auf Wanderschaft, jederzeit mächtig genug, um in bestimmten Momenten entscheidenden Einfluss auf das Leben zu nehmen. Sie könnten Jahre später verantwortlich sein für Verhaltensauffälligkeiten. Ja, sie könnten sogar schwerste Krankheiten auslösen. Der Arzt hatte sich natürlich anders ausgedrückt, so als wollte er sein jahrelanges Studium in fünf Minuten zusammenfassen: Somatofone Dissoziation; psychovegetative Dekompensation; Agoraphobie; unintegrierte, sensorische, motorische, viszerale und emotionale Reinszenierung traumatischer Erfahrungen.
Die Aneinanderreihung lateinischer Fachausdrücke hatte Paul mehr irritiert als überzeugt. Zudem hatte der Mann in weißem Kittel ganz allgemein und wie von einer neutralen dritten Person gesprochen. Jeder Mensch, war speziell er damit gemeint? Als der Arzt anfing, Pauls Schwindel im medizinischen Sinne als wahrgenommene Scheinbewegung zwischen ihm und seiner Umwelt zu definieren, wollte Paul zwar den Glauben an die moderne Medizin nicht ganz aufgeben, aber den an den Mediziner hatte er endgültig verloren. Er konnte mit dessen ärztlicher Theorie nichts anfangen, zumal sie keinerlei Bezug zu seinen damaligen Befindlichkeitsstörungen aufwies. Für seine wiederkehrenden Gleichgewichtsstörungen konnte der Arzt, wie alle anderen von Paul aufgesuchten Fachleute, weder eine organische Ursache noch eine ihm einleuchtende Erklärung finden. Damals wie heute war Paul sich sehr sicher, dass er niemand war, der Vergangenheitsbewältigung per innerer Beerdigung betrieb. Er hielt sich für einen Menschen, der Probleme rational verarbeitete, für einen Mann der klaren Gedanken und strukturierten Denkweise. Sogar seine Chefs hatten ihm Selbstkontrolle, Konflikt- und Problemlösungspotential bescheinigt, wie es heutzutage so schön heißt. Bei ihm konnte sich gar nichts ansammeln und aufstauen.
Paul sah eine einzelne weiße Wolke, sie löste sich langsam auf. Am Horizont zeigte sich ihm eine der holländischen Windmühlen. Die Felder schienen unbewirtschaftet oder bereits abgeerntet. Paul zählte vier baugleiche Ruderboote, jedes etwa vier Meter lang, unten schwarz und oben grün gestrichen, mit rotbrauner Oberkante und grauen Innenseiten. Jedes sehr gut geeignet für eine beschauliche Fahrt durch die Grachten, vorbei an holländischer Idylle, kleinen Häuschen und lieblichen Gärten. Eines der Boote war an den Pfahl gebunden, der mit drei weiteren die Dachterrasse der Ferienwohnung trug, die über ihrem Apartment lag. Paul atmete mehrmals tief durch, tief in den Bauch hinein. Er empfand ein angenehmes Gefühl von Ruhe und Wärme. Die Weltformel, nach der die Wissenschaftler seit Einstein suchten, verwirklichte sich für ihn in diesem friedlichen Bild, das er vor sich sah. Ebenes Land, gerade, parallel verlaufende Wasserstraßen, ein blauer Himmel, der sich im blauen Wasser spiegelte, vier Enten und vier Boote. Er liebte seit je her die klaren geometrischen Formen und die geraden Zahlen. Seine Lieblingszahl war die acht. Legte man sie auf die Seite, ergab sie das mathematische Zeichen für unendlich. Der eigentliche Grund für seine Entspannung war jedoch, dass er sich zur richtigen Zeit am rechten Ort wähnte. Die nahen und deshalb ungewohnt lauten Kirchenglocken weckten ihn aus seiner Träumerei.
Pauls Ausblick von der Terrasse des Ferienapartments in Holland.
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Paul - Outplacement - 31. Okt, 19:41
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