Schizophrenie

Kapitel 59 - 17. Juni 2007


Pauls Lippen bewegten sich nicht. Er gab keinen einzigen Ton von sich. Er konnte allerdings auch nicht so gut singen wie Vico Torriani. Dafür spielte die Musik in ihm:

O du mein Napoli,
dich muss man lieben!

Wer dich nur einmal sah,
ist treu dir geblieben!
Kann ich dich wiedersehn,
dann ist das Leben schön.

Santa Lucia,
Santa Lucia!
Da wohnt das Glück für mich.
Was bin ich ohne dich!

Santa Lucia,
Santa Lucia!

Nach außen wirkte Paul oft verträumt und unbeteiligt. Er nahm nicht so recht am Leben teil, das sich um ihn herum abspielte. Er blieb immer ein wenig reserviert und zurückhaltend. Der Großteil seines Lebens spielte sich in ihm ab. So wenig wie er sich am Leben der anderen beteiligte, so wenig ließ er andere an seinem Leben teilhaben. Sein Klassenlehrer in der Mittelschule, hatte sich am Ende des letzten Schuljahres von jedem Schüler verabschiedet. Vor der Klasse stehend hatte er es bedauert, Paul selbst nach sechs gemeinsamen Schuljahren nicht wirklich kennengelernt zu haben. Paul hatte sich nie geöffnet.


P1010005

Die Tür zu Pauls ehemaligem Klassenzimmer in der Realschule Garstedt. Garstedt ist heute ein Stadtteil von Norderstedt.


"Papa! Aufwachen! Du träumst schon wieder!"
"Er fischt bestimmt wieder im Trüben. Wir kennen ihn ja. Da kann er sich noch so viel vornehmen."

Durch Claudias Worte wurde Paul immer ganz schnell und wirkungsvoll in die Realität zurückbeordert. Da fiel es ihm auch gar nicht schwer, sich zu erinnern, was er eigentlich vorgehabt hatte. 'Ein Pessimist ist ein Optimist, der nachgedacht hat.', stand auf dem Display von Claudias Lap, der auf seinen Oberschenkeln ruhte. Er hatte den roten Faden wiedergefunden und tippte 'negativismus' in die Tastatur. Paul traute seinen Augen nicht. Er hatte erwartet, in etwa Folgendes angezeigt zu bekommen: Es wurden keine Webseiten gefunden, in denen der eingegebene Suchbegriff vorkommt. Vergewissern Sie sich, dass sie das Wort richtig geschrieben haben. Probieren Sie andere oder allgemeinere Suchbegriffe. Stattdessen wurden ihm 784 Treffer angezeigt. So viele Internetseiten, auf denen das Wort 'Negativismus' vorkam!? Damit hatte er bis zum Ende seines Urlaubs genügend Lesestoff. Allein ihm fehlte die Lust. Aber seine Neugierde war schon ein wenig geweckt. Zuerst wieder Wikipedia.de:

'Negativismus
In der westlich-orientierten Psychiatrie wird im Zusammenhang mit der Diagnose 'katatone Schizophrenie' Negativismus als Symptom genannt.
'

Das war kurz, bündig und erschreckend deutlich! Paul war ziemlich geschockt. Außer ein paar Ausführungen zur Bedeutung des Begriffs Negativismus in der Philosophie stand da nichts, nichts weiter. Solch eine Kernaussage hatte er wirklich am allerwenigsten erwartet. Bisher war er mit Wikipedia immer sehr zufrieden gewesen. Vielleicht hatte Claudia nicht so ganz unrecht, wenn sie ihn ab und zu als etwas negativ empfand. Ihre Ausdrucksweise war halt kräftig, deshalb verwendete sie das Wort Negativismus. Aber schizophren? Das war ja wohl ein schlechter Scherz! Er fühlte sich auf der sicheren Seite. Das konnte ja gar nicht angehen. Deshalb war es für ihn auch gar kein Problem, sich das Ganze noch etwas genauer anzuschauen. Er googelte 'Schizophrenie'. Wieder eine Unmenge von Treffern. Wahllos klickte Paul und las, wohin sein Blick gerade fiel:

'Die Schizophrenie hat eine multifaktorielle, komplexe Genese, vorwiegend ist sie jedoch auf genetische Faktoren zurück zu führen.'

Diese blöde Rechtschreibreform. Das musste doch 'zurückzuführen' heißen. Zusammengeschrieben natürlich! Jetzt schrieb kein Mensch mehr richtiges Deutsch. Wie hatte eine Ministerin von Schleswig-Holstein so schön gesagt? Mit der Rechtschreibreform solle es den ausländischen Mitbürgern erleichtert werden, mit der deutschen Sprache zurechtzukommen. Das hatte gut funktioniert. Was die deutsche Rechtsschreibung anging, fühlte sogar er sich jetzt wie ein Ausländer. Die Ausländer mussten sich schreibtechnisch wie unter ihresgleichen vorkommen. Perfekte Einbürgerung! Tolle Politik!

Paul hatte sich vom Thema abbringen lassen. Was bedeutete denn das? Multifaktor... Aha, die Schizophrenie kann durch alles Mögliche ausgelöst werden. Vorwiegend genetisch. Oh, meistens ist sie aber in die Wiege gelegt. Von Geburt an!! Claudias Worte! Jetzt hatte Paul genug!
"So ein Schwachsinn!!", entfuhr es ihm.
"Papa!", kam die prompte Reaktion von Alexandra.
"Sag ich doch. Das kann Papa einfach nicht durchhalten. Gleich wieder ein Rückfall in alte Zeiten. Negativismus pur!" Claudia fühlte sich total bestätigt.
"Um was hatten wir gewettet?"
"Jetzt haltet endlich Mal auf mit diesem ewigen Negativismus. Ich will das nicht noch einmal hören! Ich bin nicht schizophren!", schrie Paul.
"Wie kommst du denn darauf. Das hat doch gar keiner behauptet.", verteidigte sich Claudia. Seine Damen schauten sich verständnislos an.
"Was ist denn mit Papa los?"

Paul ging ins Bett.

.
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Paul

Outplacement (Kriminalroman)

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in meinem autobiografischen Kriminalroman, der sich seit dem 30. Oktober 2007 in Arbeit befindet. (Sollte Ihre Startseite nur ein Kapitel des Romans zeigen, klicken Sie bitte oben auf PAUL.) Für mich geht es beim Schreiben in erster Linie darum, die Geschehnisse der letzten Monate aufzuarbeiten, soweit dieses überhaupt möglich sein wird. Ich möchte hier nichts beschönigen, nichts zu erklären versuchen, mich weder rechtfertigen noch selbstbezichtigen, sondern Abstand gewinnen. Zeit zum Schreiben habe ich in diesen Tagen und Wochen weiß Gott genug. Er möge mir auch die nötige Kraft und Hoffnung geben, um den Roman und mein Leben zu einem guten Ende zu bringen. Der Gedanke daran, dass Sie und andere Leser an meinem Schicksal teilnehmen, ist tröstlich und hilfreich. Ich danke Ihnen!

Was erwartet Sie?

Ohne zuviel vorwegzunehmen: Sicherlich keine leichte Unterhaltung! Aus der Sicht desjenigen, der die Geschichte durchlebt hat, kann von 'leicht' keine Rede sein. Es geht um Hörstürze, Arbeitsplatzverlust, Aufhebungsvertrag, Midlife-Krise, Globalisierung, Outsourcing, Outplacement und Sozialabbau. Aber auch um eine kritische Grundeinstellung und eine recht unglückliche Kettenreaktion. Paul war Personalleiter mit viel Sympathie für Betriebsräte und Arbeitnehmerinteres- sen. Sie erfahren ganz viel über Paul, seine Familie, sein Lieblingsland Italien, seine Urlaubsreisen, Holland, Indien, Japan, China, das Go-Spiel, Hamburg, die Alster und 'seinen' HSV, Schleswig-Holstein, Quickborn, die Bee Gees und, ob Sie wollen oder nicht, über die 'gute' alte Zeit.

INHALT (bisher)


Moin, ich bin Paul!

Eine Art Vorwort ...

1 Ausblick ........... 2 Frühstückstisch ... 3 Ins Netz gegangen 4 Die Achillesferse . 5 Das Mittelmeer ... 6 Gastschüler ....... 7 Tour de France ... 8 Michi ............... 9 Aan Zee ........... 10 Grundsatz- diskussion ........... 11 Der Kongress .... 12 Die Macher ...... 13 Bergen ........... 14 Wilhemminalaan 15 InterRail ......... 16 Für Marijke ...... 17 Die Kernspaltung 18 Personal- management ........ 19 Simmungs- schwankung ......... 20 Die Referenten .. 21 Gmail ............. 22 Die Biografie .... 23 An der Alster ..... 24 Das Hotel ......... 25 Global ............ 26 Das Aquarium .... 27 Die Enten ......... 28 Die Fütterung .... 29 Purismus .......... 30 Hochsitze ....... 31 Eine richtige Familie ............... 32 Tönning .......... 33 Jojo .............. 34 Fußball ............ 35 Café au lait ...... 36 Führungs- grundsätze ........... 37 Uganda ............ 38 Im Internet ....... 39 Volendam ......... 40 Das Abendblatt .. 41 SONY ............. 42 Der Schwindel ... 43 Camcorder ....... 44 Die Einstellung ... 45 Piazza dei Miracoli .............. 46 Go ................. 47 Der Mensch ....... 48 Der Anruf ......... 49 Im Laufschritt .... 50 Besinnung ........ 51 Alles OK .......... 52 Positives Denken 53 Die Bootsfahrt ... 54 Indien.............. 55 Ein Traum ........ 56 Königsberger Klopse ................ 57 Negativ ........... 58 Bella Napoli ...... 59 Schizophrenie ... 60 Der Einkauf ...... 61 Betriebliche Altersversorgung .... 62 Durchgang verboten ............. 63 Finanzamt Elmshorn ............. 64 Woodstock ....... 65 Der letzte Tag ... 66 Im Wald .......... 67 Das Gespräch .... 68 Die Mutprobe .... 69 Die Bee Gees .... 70 Goede namiddag!
FORTSETZUNG FOLGT

Aktuelle Beiträge

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PAULS TOP 18 (Singles alphabetisch sortiert)

Assembly
Never Never

Badfinger
Baby Blue

Bee Gees
The Only Love

Golden Earing
When The Lady Smiles

John Fogerty
Rock And Roll Girl

Journey
Faithfully

Lake
Do I Love You

Manfred Mann
You Angel You

Marc Anthony
You Sang To Me

Mink DeVille
Each Word's A Beat Of My Heart

O-Town
These Are The Days

Paper Lace
Love Song

Peter Gabriel
Solsbury Hill

Queen
I Want To Break Free

Stevie Nicks
Talk To Me

Train
Drops Of Jupiter

Tremeloes
(Call Me) Number One

White Lion
You're All I Need

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