Bella Napoli
Kapitel 58 - 17. Juni 2007
Paul liebte die Freiheit, vor allem seine eigene. Er mochte nicht permanent kritisiert, erzogen und herumkommandiert werden. Aber wer mochte das schon? Die InterRail-Reise war sein erster Ausbruch aus dem engen Elternhaus gewesen, in dem sein Leben in ein festes Erziehungsschema, in vorgegebene Regeln und starre Zeiten gepresst wurde.
Wie er darauf gekommen war, Neapel als ein Ziel seiner Reise auszuwählen, wusste er nicht mehr. Italien war nach Deutschland und Österreich des Deutschen liebstes Urlaubsland gewesen. Spanien lag für damalige Verhältnisse zu weit entfernt. Die Adriaküste um Rimini war dagegen leichter zu erreichen. Aber wieso ausgerechnet Neapel? Sicher, von den Inseln Capri und Ischia hatte er gehört. Vom Vesuv natürlich auch. Aber Paul wollte nach Neapel. Warum? Vielleicht wegen der beiden Lieder 'O mia bella Napoli' und 'In Santa Lucia'? Das mag zur Hälfte stimmen. Noch heute nannte Paul sein Neapel liebevoll 'O mia bella Napoli'. Dass Neapels Hafenviertel, dieser quirlige, verwinkelte Stadtteil mit dem pulsierenden Leben und den Ausblicken auf den geschichtsträchtigen Vesuv, Santa Lucia hieß, das erfuhr er erst einige Jahre später. Neapel sei ein auf die Erde gefallenes Stück vom Himmel, so sagen die Italiener.
Paul vermutete, dass ihn ein altes italienisches Sprichwort verzaubert hatte: Vedi Napoli e poi muori. In deutscher Übersetzung besagte das Sprichwort: Neapel sehen und sterben. Für Paul drückte sich darin das Höchste der Gefühle aus. Das hätte von Shakespeare sein können. Er wusste nur eins, er wollte schon sein Leben lang nach Neapel. Claudia hätte gesagt, von Geburt an. Er konnte die Italiener voll verstehen. Auch er himmelte Neapel an. Nachdem sein erster Versuch, dorthin zu gelangen, 1972 am Ausbruch der Cholera gescheitert war, übertrug er Neapel als Urlaubsziel in seine Urlaubsplanung für 1973. Neapel blieb das einzige Urlaubsziel für dieses Jahr - Neapel sehen und sterben. Nein, ans Sterben dachte Paul weiß Gott nicht. Er plante sogar schon weiter im Voraus. Die übernächsten Sommerferien musste er sich für die in Deutschland stattfindende Fußball-Weltmeisterschaft freihalten, und erst in drei Jahren nach Neapel? So lange wollte er nicht mehr warten.
Es soll ja nicht selten vorkommen, dass das, was einem verwehrt bleibt, was einem unerreichbar erscheint, einen nur umso größeren Reiz ausübt. So war es Paul sicherlich auch mit Neapel ergangen. Nichts gegen Wien, Davos und Bern. Für die siebziger Jahre aber alles ein bisschen zu bieder. Jedenfalls ließ sich Paul durch die Cholera nicht entmutigen. Auch nicht durch ein Wort seines Geografielehrers, der das 'sterben' in 'Neapel sehen und sterben' mit dem neapolitanischen Zweig der Mafia, der Camorra, in Zusammenhang gebracht hatte.
Pauls ehemalige Schule am Aurikelstieg in Norderstedt war eine der ersten Schulen mit eigenem Schwimmbad
Zwölf Monate später war es dann soweit. Nur wenige Meter von der Stazione Centrale, dem Hauptbahnhof, direkt an der belebten Piazza Garibaldi quartierte er sich ein. Er blieb zwei Wochen, atmete Neapel und verliebte sich. Hier sah er kein Streben nach Wohlstand ohne Rücksicht auf Verluste im Zwischenmenschlichen. Hier galten nicht Leistung, Leistung über alles und Ordnung aus Prinzip. Hier hetzten keine miesepetrigen Gesichter umher. Hier sah er liebenswertes Chaos, Leben und Lebensfreude in all der Armut. Das faszinierte Paul an Napoli. Das vermisste er an seinem Zuhause aber auch bei sich selbst. ‚Man muss Chaos in sich haben, um einen Stern zu gebären.’ Von wem war das doch gleich? Nietsche? Ja, Nietsche! An der Piazza Garibaldi wurde vornehmlich abends alles Mögliche feilgeboten und verkauft: Zigaretten, Lotterielose, Plastikspielzeug, Glückspiel und mehr.
Als Paul eines Abends vom Hafen zurückkehrte, er war in San Angelo auf Ischia gewesen, sprach ihn plötzlich eine Dame an, die einige Jahre älter war als er. Sie hatte nur ein Wort gesagt: "Andiamo?". Paul bereute häufig in seinem Leben und noch heute, dass er in der Schule diese Singsang-Sprache Französisch hatte lernen müssen. Das war ihm mehr schlecht als recht gelungen. Sehr viel lieber hätte er Italienisch gelernt. Erst später hatte er sich das Wort 'andiamo' übersetzt, was gar nicht so einfach war, da es als Verb/Tätigkeitswort nur in der Form des Infinitiv im Wörterbuch stand. Andare - gehen, aufbrechen, weggehen, fahren. Aber auch das hatte ihm in seiner noch jugendlichen Naivität nicht weitergeholfen. Wirklich erst sehr, sehr viel später war ihm klargeworden, was die Dame da feilgeboten hatte. Liebesdienste. 'Andiamo?' heißt 'Gehen wir?'.
Erst nachdem er sich Napoli erschlossen hatte, erkundete Paul Napolis Umgebung und er entdeckte weitere Lieblingsorte: Das atemberaubend schöne Positano und die Tempelanlage des antiken Paestum, von der für Paul in der Tat etwas Heiliges ausging. Erst bei seinem sechsten, Claudias zweitem und Alexandras erstem Besuch Neapels vor vier Jahre, kamen Procida und Atrani hinzu. Dafür strich er Positano wieder, das inzwischen zum Schaufenster der Reichen und Möchtegernschönen geworden war. Die stolzierten durch den ganzen Ort und übervölkerten die Restaurants unten am Strand. So viel wohlfeiner Schickimicki konnte Paul den Aufenthalt an jedem Ort der Welt verleiden, erst recht in Positano.
Paul brauchte dafür so etwas wie eine Entschädigung. Er hatte sie gefunden. Es war das kleine, typisch italienische Restaurant Al Buco in der Via Roma von Vico Equense. Am Eingang wurde Laufkundschaft bedient. Die meist jungen Leute bestellten sich Pizza mit Pommes. Im hinteren Teil gab es phantastische italienische Küche. Paul und seine Damen waren für vierzehn Tage Stammgäste. Sie hatten sich keine Unterkunft in Neapel besorgt, sondern sich in der Nähe von Sorrento niedergelassen. Pauls Liebling unter allen ihm bekannten Städten dieser Erde war seinen Damen zu unheimlich und zu schmutzig gewesen. Paul war ganz wie früher wieder allein durch sein geliebtes Napoli gestreift und hatte auch Santa Lucia einen Besuch abgestattet.
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Paul liebte die Freiheit, vor allem seine eigene. Er mochte nicht permanent kritisiert, erzogen und herumkommandiert werden. Aber wer mochte das schon? Die InterRail-Reise war sein erster Ausbruch aus dem engen Elternhaus gewesen, in dem sein Leben in ein festes Erziehungsschema, in vorgegebene Regeln und starre Zeiten gepresst wurde.
Wie er darauf gekommen war, Neapel als ein Ziel seiner Reise auszuwählen, wusste er nicht mehr. Italien war nach Deutschland und Österreich des Deutschen liebstes Urlaubsland gewesen. Spanien lag für damalige Verhältnisse zu weit entfernt. Die Adriaküste um Rimini war dagegen leichter zu erreichen. Aber wieso ausgerechnet Neapel? Sicher, von den Inseln Capri und Ischia hatte er gehört. Vom Vesuv natürlich auch. Aber Paul wollte nach Neapel. Warum? Vielleicht wegen der beiden Lieder 'O mia bella Napoli' und 'In Santa Lucia'? Das mag zur Hälfte stimmen. Noch heute nannte Paul sein Neapel liebevoll 'O mia bella Napoli'. Dass Neapels Hafenviertel, dieser quirlige, verwinkelte Stadtteil mit dem pulsierenden Leben und den Ausblicken auf den geschichtsträchtigen Vesuv, Santa Lucia hieß, das erfuhr er erst einige Jahre später. Neapel sei ein auf die Erde gefallenes Stück vom Himmel, so sagen die Italiener.
Paul vermutete, dass ihn ein altes italienisches Sprichwort verzaubert hatte: Vedi Napoli e poi muori. In deutscher Übersetzung besagte das Sprichwort: Neapel sehen und sterben. Für Paul drückte sich darin das Höchste der Gefühle aus. Das hätte von Shakespeare sein können. Er wusste nur eins, er wollte schon sein Leben lang nach Neapel. Claudia hätte gesagt, von Geburt an. Er konnte die Italiener voll verstehen. Auch er himmelte Neapel an. Nachdem sein erster Versuch, dorthin zu gelangen, 1972 am Ausbruch der Cholera gescheitert war, übertrug er Neapel als Urlaubsziel in seine Urlaubsplanung für 1973. Neapel blieb das einzige Urlaubsziel für dieses Jahr - Neapel sehen und sterben. Nein, ans Sterben dachte Paul weiß Gott nicht. Er plante sogar schon weiter im Voraus. Die übernächsten Sommerferien musste er sich für die in Deutschland stattfindende Fußball-Weltmeisterschaft freihalten, und erst in drei Jahren nach Neapel? So lange wollte er nicht mehr warten.
Es soll ja nicht selten vorkommen, dass das, was einem verwehrt bleibt, was einem unerreichbar erscheint, einen nur umso größeren Reiz ausübt. So war es Paul sicherlich auch mit Neapel ergangen. Nichts gegen Wien, Davos und Bern. Für die siebziger Jahre aber alles ein bisschen zu bieder. Jedenfalls ließ sich Paul durch die Cholera nicht entmutigen. Auch nicht durch ein Wort seines Geografielehrers, der das 'sterben' in 'Neapel sehen und sterben' mit dem neapolitanischen Zweig der Mafia, der Camorra, in Zusammenhang gebracht hatte.
Pauls ehemalige Schule am Aurikelstieg in Norderstedt war eine der ersten Schulen mit eigenem Schwimmbad
Zwölf Monate später war es dann soweit. Nur wenige Meter von der Stazione Centrale, dem Hauptbahnhof, direkt an der belebten Piazza Garibaldi quartierte er sich ein. Er blieb zwei Wochen, atmete Neapel und verliebte sich. Hier sah er kein Streben nach Wohlstand ohne Rücksicht auf Verluste im Zwischenmenschlichen. Hier galten nicht Leistung, Leistung über alles und Ordnung aus Prinzip. Hier hetzten keine miesepetrigen Gesichter umher. Hier sah er liebenswertes Chaos, Leben und Lebensfreude in all der Armut. Das faszinierte Paul an Napoli. Das vermisste er an seinem Zuhause aber auch bei sich selbst. ‚Man muss Chaos in sich haben, um einen Stern zu gebären.’ Von wem war das doch gleich? Nietsche? Ja, Nietsche! An der Piazza Garibaldi wurde vornehmlich abends alles Mögliche feilgeboten und verkauft: Zigaretten, Lotterielose, Plastikspielzeug, Glückspiel und mehr.
Als Paul eines Abends vom Hafen zurückkehrte, er war in San Angelo auf Ischia gewesen, sprach ihn plötzlich eine Dame an, die einige Jahre älter war als er. Sie hatte nur ein Wort gesagt: "Andiamo?". Paul bereute häufig in seinem Leben und noch heute, dass er in der Schule diese Singsang-Sprache Französisch hatte lernen müssen. Das war ihm mehr schlecht als recht gelungen. Sehr viel lieber hätte er Italienisch gelernt. Erst später hatte er sich das Wort 'andiamo' übersetzt, was gar nicht so einfach war, da es als Verb/Tätigkeitswort nur in der Form des Infinitiv im Wörterbuch stand. Andare - gehen, aufbrechen, weggehen, fahren. Aber auch das hatte ihm in seiner noch jugendlichen Naivität nicht weitergeholfen. Wirklich erst sehr, sehr viel später war ihm klargeworden, was die Dame da feilgeboten hatte. Liebesdienste. 'Andiamo?' heißt 'Gehen wir?'.
Erst nachdem er sich Napoli erschlossen hatte, erkundete Paul Napolis Umgebung und er entdeckte weitere Lieblingsorte: Das atemberaubend schöne Positano und die Tempelanlage des antiken Paestum, von der für Paul in der Tat etwas Heiliges ausging. Erst bei seinem sechsten, Claudias zweitem und Alexandras erstem Besuch Neapels vor vier Jahre, kamen Procida und Atrani hinzu. Dafür strich er Positano wieder, das inzwischen zum Schaufenster der Reichen und Möchtegernschönen geworden war. Die stolzierten durch den ganzen Ort und übervölkerten die Restaurants unten am Strand. So viel wohlfeiner Schickimicki konnte Paul den Aufenthalt an jedem Ort der Welt verleiden, erst recht in Positano.
Paul brauchte dafür so etwas wie eine Entschädigung. Er hatte sie gefunden. Es war das kleine, typisch italienische Restaurant Al Buco in der Via Roma von Vico Equense. Am Eingang wurde Laufkundschaft bedient. Die meist jungen Leute bestellten sich Pizza mit Pommes. Im hinteren Teil gab es phantastische italienische Küche. Paul und seine Damen waren für vierzehn Tage Stammgäste. Sie hatten sich keine Unterkunft in Neapel besorgt, sondern sich in der Nähe von Sorrento niedergelassen. Pauls Liebling unter allen ihm bekannten Städten dieser Erde war seinen Damen zu unheimlich und zu schmutzig gewesen. Paul war ganz wie früher wieder allein durch sein geliebtes Napoli gestreift und hatte auch Santa Lucia einen Besuch abgestattet.
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Paul - Outplacement - 14. Apr, 13:52
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Danke!