Ein Traum
Kapitel 55 - 17. Juni 2007
Ein Pfarrer segnet zwei vierzehnjährige Jungen, die vor ihm niederknien. Als sich die beiden erheben, überreicht er ihnen einen weißen Umschlag und eine gefaltete DIN-A5-Seite, deren Vorderseite ein Kreuz ziert. Er gratuliert ihnen und sie gesellen sich an der rechten Seite des Altars zu einer Gruppe ebenfalls sehr feierlich gekleideter Jugendlicher. Jetzt sind zwei Mädchen an der Reihe. Das eine trägt ein schwarzes Kleid, das andere zur schwarzen Hose eine weiße Bluse. Paul fällt auf, dass beide Mädchen schwarze Schuhe mit hohen Absätzen tragen und auffallend schön frisiert sind. In ihren Händen halten sie kleine Sträuße Maiglöckchen. Der Pfarrer liest dem ersten Mädchen aus der Bibel vor: "Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott."
Als er sich dem zweiten Mädchen zuwendet, gibt es einen lauten Knall. Paul zuckt zusammen. Ein an der Decke der Kirche befestigter großer Messingleuchter hat sich gelöst und stürzt wie in Zeitlupe in die Kirchengemeinde. Paul sieht hinüber zu denen, die er treffen wird. Warum ist er sich so sicher? Er kennt sie. Auf ihren Gesichtern sieht er ein dämliches Grinsen. Es sind die Eltern des Mädchens, das gerade vor dem Pfarrer niederkniet. Alles ist aufgesprungen. Die Eltern des Mädchens sitzen allein, obwohl die Kirche so voll ist wie seit Heiligabend nicht mehr. Es scheint, als wenn sie das laute Getöse als einzige nicht vernommen hätten. Dann ein lauter Aufprall. Wie durch ein Wunder trifft der Leuchter nur zwei Besucher des Gottesdienstes. Es herrscht große Bestürzung und Totenstille. Der Pfarrer liest laut: "Wenn du dem Glauben spottest und deinen Teil zurückhältst, so soll dir Gerechtigkeit widerfahren. Fürchte dich nicht, denn ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!"
Paul war aufgeschreckt und aufgewacht. Er träumte eigentlich sehr selten, jedenfalls konnte er sich nur selten an seine Träume erinnern. An die beiden in seinem Traum zu Tode gekommenen Eltern, konnte er sich sehr wohl erinnern. Nur waren sie im wirklichen Leben kinderlos. Er hatte sie auf einer Konfirmation kennen gelernt. Claudia, Alexandra und er waren von Dana eingeladen gewesen, die eingesegnet werden sollte. Alexandra und Dana kannten sich von Geburt an. Ihre Mütter hatten denselben Geburtsvorbereitungskurs an der Quickborner Volkshochschule besucht. Paul war auch dabei gewesen, als einziger werdender Vater. Der Konfirmationsgottesdienst, der zwei Wochen nach Alexandras Konfirmation stattfand, verlief in der Realität ohne Zwischenfall. Niemand kam ums Leben. In der zwischen Quickborn-Renzel und Tangstedt gelegenen Wulfsmühle, erwartete die Konfirmationsgesellschaft ein reichhaltiges warmes und kaltes Buffet. Bei Dana zu Hause nahm man dann Kaffee und Kuchen zu sich. Es war Juni. Die Sonne schien. Die Kinder hatten das Geld gezählt und kamen jetzt auf die große Terrasse, auf der sich die Erwachsenen angeregt unterhielten.
Paul erinnerte sich noch sehr gut an die Worte der Frau, die in seinem Traum auf so tragische Weise ums Leben gekommen war: "Wir sind schon vor Jahren aus der Kirche ausgetreten. Warum sollten wir weiter Kirchensteuern zahlen. Sollen das doch die anderen machen. Wenn wir Heiligabend in die Kirche gehen wollen, kommen wir auch so hinein." Paul hatte zunächst nichts dazu gesagt. Er war davon ausgegangen, dass sich Widerstand regen und sich zumindest Danas Eltern zu Wort melden würden. Doch nichts dergleichen geschah. Paul sah Dana an, die gerade konfirmiert worden war. Alexandra stand neben ihr. Beide schauten sie leicht irritiert. Statt Widerspruch erntete die Frau laute Zustimmung. Reihum bestätigte man sich gegenseitig. Paul überkam das Gefühl, er sei in der Runde das einzige Kirchenmitglied. Um ihn herum Gelächter und gute Laune.
Dana, die Konfirmandin
Paul konnte von niemandem erwarten, dass er glaubt. Er konnte ebenso wenig erwarten, dass jemand in der Kirche war oder blieb. Was er aber erwartete, war ein gewisser Rest an Anstand. Wie konnte man sich im Beisein einer Frischkonfirmierten und ihrer Eltern mitten auf einer Konfirmationsfeier brüsten, aus der Kirche ausgetreten zu sein und es vorzuziehen, andere für seinen Gang in die Kirche zahlen zu lassen? Als sei die Kirchensteuer nicht mehr als eine Art Eintrittsgeld für den Heiligabend-Gottesdienst. Das war alles nicht nur geschmacklos, sondern in Pauls Augen geradezu frevelhaft. Es wurde ihm zu bunt. Laut vernehmlich störte er die gute Stimmung: "Es ist immer gut, wenn diejenigen aus der Kirche austreten, die dort überhaupt nichts zu suchen haben, die den Glauben anderer Kirchenmitglieder verlachen. Etwas Besseres kann der Kirche gar nicht passieren. Wer auf einer Konfirmation mit seinem Kirchenaustritt prahlt und das ausgerechnet vor den jungen Leuten, die gerade ihren Glauben bestätigt haben und der Kirche beigetreten sind, dem sollten Kirchen und Friedhöfe auf ewig verschlossen bleiben!"
Es war sehr still geworden, so still wie in Pauls Traum nach dem Fall des Leuchters. Betretenes Schweigen. Paul spürte, dass nicht die von ihm so scharf kritisierte Frau unangenehm aufgefallen war, sondern er selbst. Nicht das Übel ist von Übel, sondern, dass man es benennt. Der linke Affe von Nikkō ließ schön grüßen! Er hatte sich zwar sehr, sehr deutlich ausgedrückt, aber durchaus angemessen, wie er fand. Paul war demonstrativ aufgestanden. Er hatte sich ins Wohnzimmer zurückgezogen und die Terrasse an jenem Tag nicht mehr betreten. Mit der Frau und ihrem Gatten hatte er nie wieder, weder auf Geburtstagsfeiern noch auf der Silberhochzeit ihrer Bekannten, auch nur ein einziges Sterbenswörtchen gewechselt. Sie waren für ihn gestorben.
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Ein Pfarrer segnet zwei vierzehnjährige Jungen, die vor ihm niederknien. Als sich die beiden erheben, überreicht er ihnen einen weißen Umschlag und eine gefaltete DIN-A5-Seite, deren Vorderseite ein Kreuz ziert. Er gratuliert ihnen und sie gesellen sich an der rechten Seite des Altars zu einer Gruppe ebenfalls sehr feierlich gekleideter Jugendlicher. Jetzt sind zwei Mädchen an der Reihe. Das eine trägt ein schwarzes Kleid, das andere zur schwarzen Hose eine weiße Bluse. Paul fällt auf, dass beide Mädchen schwarze Schuhe mit hohen Absätzen tragen und auffallend schön frisiert sind. In ihren Händen halten sie kleine Sträuße Maiglöckchen. Der Pfarrer liest dem ersten Mädchen aus der Bibel vor: "Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott."
Als er sich dem zweiten Mädchen zuwendet, gibt es einen lauten Knall. Paul zuckt zusammen. Ein an der Decke der Kirche befestigter großer Messingleuchter hat sich gelöst und stürzt wie in Zeitlupe in die Kirchengemeinde. Paul sieht hinüber zu denen, die er treffen wird. Warum ist er sich so sicher? Er kennt sie. Auf ihren Gesichtern sieht er ein dämliches Grinsen. Es sind die Eltern des Mädchens, das gerade vor dem Pfarrer niederkniet. Alles ist aufgesprungen. Die Eltern des Mädchens sitzen allein, obwohl die Kirche so voll ist wie seit Heiligabend nicht mehr. Es scheint, als wenn sie das laute Getöse als einzige nicht vernommen hätten. Dann ein lauter Aufprall. Wie durch ein Wunder trifft der Leuchter nur zwei Besucher des Gottesdienstes. Es herrscht große Bestürzung und Totenstille. Der Pfarrer liest laut: "Wenn du dem Glauben spottest und deinen Teil zurückhältst, so soll dir Gerechtigkeit widerfahren. Fürchte dich nicht, denn ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!"
Paul war aufgeschreckt und aufgewacht. Er träumte eigentlich sehr selten, jedenfalls konnte er sich nur selten an seine Träume erinnern. An die beiden in seinem Traum zu Tode gekommenen Eltern, konnte er sich sehr wohl erinnern. Nur waren sie im wirklichen Leben kinderlos. Er hatte sie auf einer Konfirmation kennen gelernt. Claudia, Alexandra und er waren von Dana eingeladen gewesen, die eingesegnet werden sollte. Alexandra und Dana kannten sich von Geburt an. Ihre Mütter hatten denselben Geburtsvorbereitungskurs an der Quickborner Volkshochschule besucht. Paul war auch dabei gewesen, als einziger werdender Vater. Der Konfirmationsgottesdienst, der zwei Wochen nach Alexandras Konfirmation stattfand, verlief in der Realität ohne Zwischenfall. Niemand kam ums Leben. In der zwischen Quickborn-Renzel und Tangstedt gelegenen Wulfsmühle, erwartete die Konfirmationsgesellschaft ein reichhaltiges warmes und kaltes Buffet. Bei Dana zu Hause nahm man dann Kaffee und Kuchen zu sich. Es war Juni. Die Sonne schien. Die Kinder hatten das Geld gezählt und kamen jetzt auf die große Terrasse, auf der sich die Erwachsenen angeregt unterhielten.
Paul erinnerte sich noch sehr gut an die Worte der Frau, die in seinem Traum auf so tragische Weise ums Leben gekommen war: "Wir sind schon vor Jahren aus der Kirche ausgetreten. Warum sollten wir weiter Kirchensteuern zahlen. Sollen das doch die anderen machen. Wenn wir Heiligabend in die Kirche gehen wollen, kommen wir auch so hinein." Paul hatte zunächst nichts dazu gesagt. Er war davon ausgegangen, dass sich Widerstand regen und sich zumindest Danas Eltern zu Wort melden würden. Doch nichts dergleichen geschah. Paul sah Dana an, die gerade konfirmiert worden war. Alexandra stand neben ihr. Beide schauten sie leicht irritiert. Statt Widerspruch erntete die Frau laute Zustimmung. Reihum bestätigte man sich gegenseitig. Paul überkam das Gefühl, er sei in der Runde das einzige Kirchenmitglied. Um ihn herum Gelächter und gute Laune.
Dana, die Konfirmandin
Paul konnte von niemandem erwarten, dass er glaubt. Er konnte ebenso wenig erwarten, dass jemand in der Kirche war oder blieb. Was er aber erwartete, war ein gewisser Rest an Anstand. Wie konnte man sich im Beisein einer Frischkonfirmierten und ihrer Eltern mitten auf einer Konfirmationsfeier brüsten, aus der Kirche ausgetreten zu sein und es vorzuziehen, andere für seinen Gang in die Kirche zahlen zu lassen? Als sei die Kirchensteuer nicht mehr als eine Art Eintrittsgeld für den Heiligabend-Gottesdienst. Das war alles nicht nur geschmacklos, sondern in Pauls Augen geradezu frevelhaft. Es wurde ihm zu bunt. Laut vernehmlich störte er die gute Stimmung: "Es ist immer gut, wenn diejenigen aus der Kirche austreten, die dort überhaupt nichts zu suchen haben, die den Glauben anderer Kirchenmitglieder verlachen. Etwas Besseres kann der Kirche gar nicht passieren. Wer auf einer Konfirmation mit seinem Kirchenaustritt prahlt und das ausgerechnet vor den jungen Leuten, die gerade ihren Glauben bestätigt haben und der Kirche beigetreten sind, dem sollten Kirchen und Friedhöfe auf ewig verschlossen bleiben!"
Es war sehr still geworden, so still wie in Pauls Traum nach dem Fall des Leuchters. Betretenes Schweigen. Paul spürte, dass nicht die von ihm so scharf kritisierte Frau unangenehm aufgefallen war, sondern er selbst. Nicht das Übel ist von Übel, sondern, dass man es benennt. Der linke Affe von Nikkō ließ schön grüßen! Er hatte sich zwar sehr, sehr deutlich ausgedrückt, aber durchaus angemessen, wie er fand. Paul war demonstrativ aufgestanden. Er hatte sich ins Wohnzimmer zurückgezogen und die Terrasse an jenem Tag nicht mehr betreten. Mit der Frau und ihrem Gatten hatte er nie wieder, weder auf Geburtstagsfeiern noch auf der Silberhochzeit ihrer Bekannten, auch nur ein einziges Sterbenswörtchen gewechselt. Sie waren für ihn gestorben.
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Paul - Outplacement - 3. Apr, 22:14
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