Das Abendblatt
Kapitel 40 - 16. Juni 2007
Sie hatten sich wider Pauls Erwartung einstimmig entschieden, seinem Vorschlag zu folgen und mit einem der hin und her pendelnden Fähren einen Abstecher nach Marken zu unternehmen. Claudia und Alexandra nahmen sich auf dem Schiff ihre Bücher vor. Paul warf einen Blick in das Abendblatt. Der Berichterstattung nach zu urteilen, gab es im Hinblick auf Umweltgefahren und Klimawandel eine gute Nachricht nach der anderen:
'Amazonas: Weniger gerodet…
Der Auslöser der Störung im AKW Krümmel ist möglicherweise nie zu klären. Kritisch ist die Situation jedoch nie gewesen…
Der sparsamste Golf aller Zeiten…
Mercedes bietet saubere Selbstzünder demnächst auch in den höheren Modellreihen.'
Super, dachte Paul ironisch, dann ist ja alles in Butter! Wenn die so weiter machen, gibt es am Amazonas bald gar nichts mehr zu roden! Wie man bei einem die Umwelt auf jeden Fall belastenden Automobil überhaupt von sauber sprechen konnte, war Paul wirklich ein Rätsel. Das war nicht einmal dann richtig, wenn das Auto frisch aus der Waschanlage kam! Und woher wollte man die Gewissheit nehmen, dass die Sicherheit im und um das Atomkraftwerk herum zu keiner Zeit gefährdet war, wenn man den Auslöser der Störung noch nicht einmal kannte? Oder ob er nicht bekannt werden sollte?
Paul hätte das Abonnement dieser Tendenzberichterstattung schon lange abbestellt. In seinen Augen war das Volksverdummung. Aber Claudia war geborene Altonaerin und schätzte ihr Abendblatt über alles. Man war immer informiert, was in Hamburg so los war, was neu eröffnete oder gebaut wurde, welche Veranstaltungen stattfanden. Das musste Paul einräumen. Bei der Lektüre des Abendblattes war für Paul jedoch Kritikfähigkeit oberstes Gebot. Das bezog sich natürlich ganz besonders auf die politischen Meldungen und Kommentare auf der zweiten Seite. Die Ehefrau von Oskar Lafontaine sollte doch tatsächlich gesagt haben:
'Das Glück meiner Familie ist mir wichtiger als mein Job. Ich vermisse nichts.'
Paul hatte seine ironische Ader noch nicht wieder abgestellt: Wirklich unvorstellbar! Eine Frau, die nicht von morgens bis abends arbeitet, die ihre Kinder nicht bei Kindergarten, Ganztagsschule, Großeltern oder geschiedenem Mann abliefert, die sich womöglich noch selbst um sie kümmert, statt ihre Unterbringung zu organisieren. Da sei das Abendblatt davor!
'Lafontaine ultimativ aufgefordert die Positionen zu klären.'
Genau! Damit auch die Frauen für weniger Geld mehr arbeiten können! Vor kurzem, so erinnerte sich Paul, hatte das Abendblatt die Zukunft vorwegnehmend einen sehr wohlwollenden Artikel zur Wiedereinführung des Schulunterrichts an Samstagen veröffentlicht. Noch ein paar Tage davor hatte er im selben Blatt gelesen: 'Wir müssen wegkommen von der Teilzeitbetreuung.' Es war ein Plädoyer für den Ganztagskindergarten gewesen. Das passte alles zusammen. Das passte zur 42 Stunden Woche, die die Bayern als Musterknaben der Nation gerade im öffentlichen Dienst eingeführt hatten.
Paul war klar, das war alles nur der erste Schritt. Die Schlagworte waren ihm präsent: Der Mitarbeiter und sein Return on Investment, Homogenisierung der Personalkosten internationaler Unternehmen (selbstredend auf unterstem Niveau), Volkswirtschaften im internationalem Wettbewerb, Stärkung des Leistungsprinzips, Vorreiterrolle Indiens! Paul kannte keine genauen Zahlen zu Indien. Er hatte neulich aber gelesen, dass der Sportartikelhersteller PUMA in einem chinesischen Werk in Zhongshan für angeblich 31 US-Cent die Stunde produzieren ließ, das waren in Euro grob gerechnet 23 Cent. Die wöchentliche Arbeitszeit sollte je nach betrieblicher Notwendigkeit, sprich Auftragslage, zwischen 76,5 und 100,5 Stunden variieren. Paul rechnete im Kopf: 100 mal 23 Cent. Das machte 23 Euro für eine Hundert-Stunden-Arbeitswoche und circa 100 Euro im Monat. Globalisierung: 76 bis 100 Wochenarbeitsstunden statt 42, 100 Euro statt der 'wettbewerbsverzerrenden und eindeutig Arbeitsplätze vernichtenden' deutschen Einkommen. Paul konnte sich die nächsten Schritte der deutschen Allianz aus Wirtschaft, Politik und Medien sehr gut vorstellen.
"Du hast schon wieder so eine ungesunde Gesichtsfarbe!", hörte er Claudia sagen. "Komm, wir sind da. Leg die Zeitung weg!"
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Sie hatten sich wider Pauls Erwartung einstimmig entschieden, seinem Vorschlag zu folgen und mit einem der hin und her pendelnden Fähren einen Abstecher nach Marken zu unternehmen. Claudia und Alexandra nahmen sich auf dem Schiff ihre Bücher vor. Paul warf einen Blick in das Abendblatt. Der Berichterstattung nach zu urteilen, gab es im Hinblick auf Umweltgefahren und Klimawandel eine gute Nachricht nach der anderen:
'Amazonas: Weniger gerodet…
Der Auslöser der Störung im AKW Krümmel ist möglicherweise nie zu klären. Kritisch ist die Situation jedoch nie gewesen…
Der sparsamste Golf aller Zeiten…
Mercedes bietet saubere Selbstzünder demnächst auch in den höheren Modellreihen.'
Super, dachte Paul ironisch, dann ist ja alles in Butter! Wenn die so weiter machen, gibt es am Amazonas bald gar nichts mehr zu roden! Wie man bei einem die Umwelt auf jeden Fall belastenden Automobil überhaupt von sauber sprechen konnte, war Paul wirklich ein Rätsel. Das war nicht einmal dann richtig, wenn das Auto frisch aus der Waschanlage kam! Und woher wollte man die Gewissheit nehmen, dass die Sicherheit im und um das Atomkraftwerk herum zu keiner Zeit gefährdet war, wenn man den Auslöser der Störung noch nicht einmal kannte? Oder ob er nicht bekannt werden sollte?
Paul hätte das Abonnement dieser Tendenzberichterstattung schon lange abbestellt. In seinen Augen war das Volksverdummung. Aber Claudia war geborene Altonaerin und schätzte ihr Abendblatt über alles. Man war immer informiert, was in Hamburg so los war, was neu eröffnete oder gebaut wurde, welche Veranstaltungen stattfanden. Das musste Paul einräumen. Bei der Lektüre des Abendblattes war für Paul jedoch Kritikfähigkeit oberstes Gebot. Das bezog sich natürlich ganz besonders auf die politischen Meldungen und Kommentare auf der zweiten Seite. Die Ehefrau von Oskar Lafontaine sollte doch tatsächlich gesagt haben:
'Das Glück meiner Familie ist mir wichtiger als mein Job. Ich vermisse nichts.'
Paul hatte seine ironische Ader noch nicht wieder abgestellt: Wirklich unvorstellbar! Eine Frau, die nicht von morgens bis abends arbeitet, die ihre Kinder nicht bei Kindergarten, Ganztagsschule, Großeltern oder geschiedenem Mann abliefert, die sich womöglich noch selbst um sie kümmert, statt ihre Unterbringung zu organisieren. Da sei das Abendblatt davor!
'Lafontaine ultimativ aufgefordert die Positionen zu klären.'
Genau! Damit auch die Frauen für weniger Geld mehr arbeiten können! Vor kurzem, so erinnerte sich Paul, hatte das Abendblatt die Zukunft vorwegnehmend einen sehr wohlwollenden Artikel zur Wiedereinführung des Schulunterrichts an Samstagen veröffentlicht. Noch ein paar Tage davor hatte er im selben Blatt gelesen: 'Wir müssen wegkommen von der Teilzeitbetreuung.' Es war ein Plädoyer für den Ganztagskindergarten gewesen. Das passte alles zusammen. Das passte zur 42 Stunden Woche, die die Bayern als Musterknaben der Nation gerade im öffentlichen Dienst eingeführt hatten.
Paul war klar, das war alles nur der erste Schritt. Die Schlagworte waren ihm präsent: Der Mitarbeiter und sein Return on Investment, Homogenisierung der Personalkosten internationaler Unternehmen (selbstredend auf unterstem Niveau), Volkswirtschaften im internationalem Wettbewerb, Stärkung des Leistungsprinzips, Vorreiterrolle Indiens! Paul kannte keine genauen Zahlen zu Indien. Er hatte neulich aber gelesen, dass der Sportartikelhersteller PUMA in einem chinesischen Werk in Zhongshan für angeblich 31 US-Cent die Stunde produzieren ließ, das waren in Euro grob gerechnet 23 Cent. Die wöchentliche Arbeitszeit sollte je nach betrieblicher Notwendigkeit, sprich Auftragslage, zwischen 76,5 und 100,5 Stunden variieren. Paul rechnete im Kopf: 100 mal 23 Cent. Das machte 23 Euro für eine Hundert-Stunden-Arbeitswoche und circa 100 Euro im Monat. Globalisierung: 76 bis 100 Wochenarbeitsstunden statt 42, 100 Euro statt der 'wettbewerbsverzerrenden und eindeutig Arbeitsplätze vernichtenden' deutschen Einkommen. Paul konnte sich die nächsten Schritte der deutschen Allianz aus Wirtschaft, Politik und Medien sehr gut vorstellen.
"Du hast schon wieder so eine ungesunde Gesichtsfarbe!", hörte er Claudia sagen. "Komm, wir sind da. Leg die Zeitung weg!"
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Paul - Outplacement - 11. Jan, 19:36
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