Führungsgrundsätze
Kapitel 36 - 15. Juni 2007
Pauls erster Arbeitgeber nach seinem BWL-Studium fertigte keine Kameras, sondern Handgabelhubwagen und Flurförderfahrzeuge, im Sprachgebrauch Gabelstapler genannt. Dem rauen Ton der Metallindustrie mochte er sich nicht anpassen, konnte es auch nicht. Er war nicht der Typ dazu. Die elf Semester an der Hamburger Uni waren auch nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Während die Studenten Anfang der siebziger Jahre die Autoritäten des Landes und die Art ihres Machtgebrauchs in Frage stellten, hielt die Demokratisierung Jahre später auch Einzug in die Unternehmen. Schlagworte wie partizipative Führung, konstruktive Zusammenarbeit, gleitende Arbeitszeit, Erfolgsbeteiligung, Mitarbeitergespräche und Führungsgrundsätze waren neu und Mode. Zur damaligen Realität in der Metallindustrie wollte das alles nicht so recht passen. Wer im Gang oder Fahrstuhl ohne Block und Bleistift einem Geschäftsführer in Pauls Firma begegnete, musste damit rechnen, zehn Minuten später von der Sekretärin zu seinem Vorgesetzten zitiert zu werden. Verbale Abmahnung wegen Arbeitsverweigerung! Ein Arbeitnehmer, heute als Mitarbeiter bezeichnet, war ohne Block und Bleistift - Kugelschreiber wurden nicht genehmigt, sie waren zu teuer - nicht in der Lage, Anordnungen und Aufträge entgegen zu nehmen und zu notieren. Er demonstrierte geradezu seinen Unwillen.
Paul erinnerte sich sein Leben lang immer wieder an einen Vorgang, der seinem Dafürhalten nach komplett nach Ochsenzoll gehörte, in die Psychiatrische Klinik. Nur nahmen so dort keine verrückten Vorgänge auf. Diesen hätten sie nie wieder in die Freiheit entlassen, da war sich Paul ganz sicher.
Paul hatte von seinem Chef die Führungsgrundsätze von Mercedes-Benz mit der Aufgabe überreicht bekommen, die Grundsätze weiterer Firmen zu besorgen und Vorschläge für Führungsgrundsätze ihres Unternehmens zu erarbeiten. Wie immer wurde ein Abgabetermin dazudiktiert. Gesagt, getan. Vorschlag im Sekretariat abgegeben. Termin eingehalten. Beim nächsten Jour fix, er hatte jeden zweiten Montag um 14 Uhr Termin beim Chef, wurde kritisiert, verworfen und eigentlich überhaupt erst einmal die grobe Zielrichtung vorgegeben. Vierzehn Tage später hatte Paul die erste Version einer vollständigen Formulierung vorgelegt. Ergebnis? Dasselbe wie das letzte Mal in grün - nein, in dunkelrot. Das war absolut gar nichts. Erneuter Anlauf, erneuter Termin.
Paul fotografierte den feinen Sand am Strand von Egmond aan Zee und dachte an seine ersten Berufsjahre.
Es war die typische Arbeitsweise seines Chefs. Er benutzte Paul als Punchingball und bessere Schreibkraft um in vielen Einzelschritten letztendlich seine eigenen Vorstellungen optimiert zu Papier zu bringen. Nach der dritten Komplettüberarbeitung der Grundsätze fing Paul an, sich Kopien zu machen. Als wenn er es geahnt hätte. Die Kopie ihrer letzten Version sollte die Nummer zehn tragen. Einige Monate waren vergangen. Jedes einzelne Wort war mehrfach ersetzt, jede Formulierung mehrmals hinterfragt und abgeglichen. Pauls Vorgesetzter war übervorsichtig und er wusste warum. Dann kam die Pointe! Paul ließ die insgesamt neun Seiten der Leitlinien zu Führung und Zusammenarbeit von der Sekretärin ausdrucken. Über seinen Chef gingen sie an das Sekretariat des kaufmännischen Geschäftsführers. Das war immer spannend. Jeden zweiten Montag um zehn Uhr hatte Pauls Chef, seines Zeichens oberster Personalleiter des Unternehmens, das weltweit mehr als 2000 Mitarbeiter beschäftigte, seinen Jour fix.
Um kurz vor 11 Uhr dann, drei Stunden vor Pauls Jour fix, wurde er gerufen. Von der Sekretärin, was kein gutes Zeichen war. Sein Chef warf ihm die Führungsgrundsätze nicht vor die Füße, aber er warf sie vor ihm auf den Schreibtisch. In der Art, wie er es tat, war das dasselbe! Sein Chef ging rastlos im Büro auf und ab. Paul blätterte die ihm nur zu vertrauten Seiten durch. Der Geschäftsführer pflegte seine Anmerkungen in Rot zu machen, wie die Lehrer in der Schule. Aber es war kein Rot in Sicht. Auf der letzten Seite angelangt, sah Paul immer noch nichts. Er näherte sich der letzten Zeile. Da!!! Ein runder Kringel hinter dem letzten Wort des letzten Satzes, dem allerletzten Wort von neun Seiten 'Führung und Zusammenarbeit'. Paul wusste wirklich nicht, was das bedeuten sollte. Erst nach einigen Sekunden stieg eine vage Ahnung in ihm auf. Es fehlte das Satzzeichen, der Punkt, der allerletzte Punkt. Paul sah seinen Chef verständnislos an.
"Sie können vom Geschäftsführer nicht erwarten, dass er etwas durchliest und prüft, wenn ganz offensichtlich ist, dass sie es selbst nicht bis zum Ende gelesen haben!" Anfängliche Fassungslosigkeit wich großer Bestürzung. Pauls Chef hatte sich das widerspruchslos gefallen lassen, und gab es eins zu eins an ihn weiter. Genau genommen war es ja die GF-Vorlage seines Chefs! Führungsgrundsätze einführen zu wollen, das war in diesem Unternehmen eine vergebliche Liebesmüh! So sehr sie auch nötig gewesen wären. Das wurde wenige Wochen später endgültig zur Gewissheit:
Zu Beginn einer Zusammenkunft aller Führungskräfte einschließlich der Werkleiter und der Geschäftsführer der Auslandstochtergesellschaften wurden die Führungsleitlinien vorgestellt und eingeführt. Heutzutage würde man es Kick-off-Meeting nennen. Auf Punkt 2 der Tagesordnung stand die neue Vertriebsstrategie. Sie wurde vom Vertriebsgeschäftsführer dargestellt und erläutert. Statt die Ausführungen widerstandslos entgegen zu nehmen, wie es in diesem Unternehmen Pflicht und Übung war, meldete sich der Leiter Controlling Auslandsgesellschaften, den Paul sehr mochte, zu Wort. Er verwies auf den Abschnitt der Führungsgrundsätze, der den Titel Kooperative Zusammenarbeit und Entscheidungsfindung trug, und meldete Diskussionsbedarf zur Vertriebsstrategie an. Kolportiert wurde später die barsche Antwort des Geschäftsführers: "Herr Fendt, vergessen Sie einmal für einen Moment die Führungsgrundsätze. Wir stehen im harten Wettbewerb und können uns an dieser Stelle weder lange Diskussionen erlauben noch Uneinigkeit im Führungskreis unseres Unternehmens!" Damit waren die Führungsleitlinien, nur wenige Minuten nachdem sie das Licht der Welt erblickt hatten, schon wieder so gut wie beerdigt.
Die Studenten hatten vollkommen Recht. So konnte es nicht weitergehen. Seit jenen Tagen hegte Paul tiefen Groll gegen Willkür, Egozentrik und menschenverachtende Haltung auf den obersten Führungsetagen. Er hatte zwei Jahre später einen Schlusspunkt gesetzt und gekündigt.
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Pauls erster Arbeitgeber nach seinem BWL-Studium fertigte keine Kameras, sondern Handgabelhubwagen und Flurförderfahrzeuge, im Sprachgebrauch Gabelstapler genannt. Dem rauen Ton der Metallindustrie mochte er sich nicht anpassen, konnte es auch nicht. Er war nicht der Typ dazu. Die elf Semester an der Hamburger Uni waren auch nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Während die Studenten Anfang der siebziger Jahre die Autoritäten des Landes und die Art ihres Machtgebrauchs in Frage stellten, hielt die Demokratisierung Jahre später auch Einzug in die Unternehmen. Schlagworte wie partizipative Führung, konstruktive Zusammenarbeit, gleitende Arbeitszeit, Erfolgsbeteiligung, Mitarbeitergespräche und Führungsgrundsätze waren neu und Mode. Zur damaligen Realität in der Metallindustrie wollte das alles nicht so recht passen. Wer im Gang oder Fahrstuhl ohne Block und Bleistift einem Geschäftsführer in Pauls Firma begegnete, musste damit rechnen, zehn Minuten später von der Sekretärin zu seinem Vorgesetzten zitiert zu werden. Verbale Abmahnung wegen Arbeitsverweigerung! Ein Arbeitnehmer, heute als Mitarbeiter bezeichnet, war ohne Block und Bleistift - Kugelschreiber wurden nicht genehmigt, sie waren zu teuer - nicht in der Lage, Anordnungen und Aufträge entgegen zu nehmen und zu notieren. Er demonstrierte geradezu seinen Unwillen.
Paul erinnerte sich sein Leben lang immer wieder an einen Vorgang, der seinem Dafürhalten nach komplett nach Ochsenzoll gehörte, in die Psychiatrische Klinik. Nur nahmen so dort keine verrückten Vorgänge auf. Diesen hätten sie nie wieder in die Freiheit entlassen, da war sich Paul ganz sicher.
Paul hatte von seinem Chef die Führungsgrundsätze von Mercedes-Benz mit der Aufgabe überreicht bekommen, die Grundsätze weiterer Firmen zu besorgen und Vorschläge für Führungsgrundsätze ihres Unternehmens zu erarbeiten. Wie immer wurde ein Abgabetermin dazudiktiert. Gesagt, getan. Vorschlag im Sekretariat abgegeben. Termin eingehalten. Beim nächsten Jour fix, er hatte jeden zweiten Montag um 14 Uhr Termin beim Chef, wurde kritisiert, verworfen und eigentlich überhaupt erst einmal die grobe Zielrichtung vorgegeben. Vierzehn Tage später hatte Paul die erste Version einer vollständigen Formulierung vorgelegt. Ergebnis? Dasselbe wie das letzte Mal in grün - nein, in dunkelrot. Das war absolut gar nichts. Erneuter Anlauf, erneuter Termin.
Paul fotografierte den feinen Sand am Strand von Egmond aan Zee und dachte an seine ersten Berufsjahre.
Es war die typische Arbeitsweise seines Chefs. Er benutzte Paul als Punchingball und bessere Schreibkraft um in vielen Einzelschritten letztendlich seine eigenen Vorstellungen optimiert zu Papier zu bringen. Nach der dritten Komplettüberarbeitung der Grundsätze fing Paul an, sich Kopien zu machen. Als wenn er es geahnt hätte. Die Kopie ihrer letzten Version sollte die Nummer zehn tragen. Einige Monate waren vergangen. Jedes einzelne Wort war mehrfach ersetzt, jede Formulierung mehrmals hinterfragt und abgeglichen. Pauls Vorgesetzter war übervorsichtig und er wusste warum. Dann kam die Pointe! Paul ließ die insgesamt neun Seiten der Leitlinien zu Führung und Zusammenarbeit von der Sekretärin ausdrucken. Über seinen Chef gingen sie an das Sekretariat des kaufmännischen Geschäftsführers. Das war immer spannend. Jeden zweiten Montag um zehn Uhr hatte Pauls Chef, seines Zeichens oberster Personalleiter des Unternehmens, das weltweit mehr als 2000 Mitarbeiter beschäftigte, seinen Jour fix.
Um kurz vor 11 Uhr dann, drei Stunden vor Pauls Jour fix, wurde er gerufen. Von der Sekretärin, was kein gutes Zeichen war. Sein Chef warf ihm die Führungsgrundsätze nicht vor die Füße, aber er warf sie vor ihm auf den Schreibtisch. In der Art, wie er es tat, war das dasselbe! Sein Chef ging rastlos im Büro auf und ab. Paul blätterte die ihm nur zu vertrauten Seiten durch. Der Geschäftsführer pflegte seine Anmerkungen in Rot zu machen, wie die Lehrer in der Schule. Aber es war kein Rot in Sicht. Auf der letzten Seite angelangt, sah Paul immer noch nichts. Er näherte sich der letzten Zeile. Da!!! Ein runder Kringel hinter dem letzten Wort des letzten Satzes, dem allerletzten Wort von neun Seiten 'Führung und Zusammenarbeit'. Paul wusste wirklich nicht, was das bedeuten sollte. Erst nach einigen Sekunden stieg eine vage Ahnung in ihm auf. Es fehlte das Satzzeichen, der Punkt, der allerletzte Punkt. Paul sah seinen Chef verständnislos an.
"Sie können vom Geschäftsführer nicht erwarten, dass er etwas durchliest und prüft, wenn ganz offensichtlich ist, dass sie es selbst nicht bis zum Ende gelesen haben!" Anfängliche Fassungslosigkeit wich großer Bestürzung. Pauls Chef hatte sich das widerspruchslos gefallen lassen, und gab es eins zu eins an ihn weiter. Genau genommen war es ja die GF-Vorlage seines Chefs! Führungsgrundsätze einführen zu wollen, das war in diesem Unternehmen eine vergebliche Liebesmüh! So sehr sie auch nötig gewesen wären. Das wurde wenige Wochen später endgültig zur Gewissheit:
Zu Beginn einer Zusammenkunft aller Führungskräfte einschließlich der Werkleiter und der Geschäftsführer der Auslandstochtergesellschaften wurden die Führungsleitlinien vorgestellt und eingeführt. Heutzutage würde man es Kick-off-Meeting nennen. Auf Punkt 2 der Tagesordnung stand die neue Vertriebsstrategie. Sie wurde vom Vertriebsgeschäftsführer dargestellt und erläutert. Statt die Ausführungen widerstandslos entgegen zu nehmen, wie es in diesem Unternehmen Pflicht und Übung war, meldete sich der Leiter Controlling Auslandsgesellschaften, den Paul sehr mochte, zu Wort. Er verwies auf den Abschnitt der Führungsgrundsätze, der den Titel Kooperative Zusammenarbeit und Entscheidungsfindung trug, und meldete Diskussionsbedarf zur Vertriebsstrategie an. Kolportiert wurde später die barsche Antwort des Geschäftsführers: "Herr Fendt, vergessen Sie einmal für einen Moment die Führungsgrundsätze. Wir stehen im harten Wettbewerb und können uns an dieser Stelle weder lange Diskussionen erlauben noch Uneinigkeit im Führungskreis unseres Unternehmens!" Damit waren die Führungsleitlinien, nur wenige Minuten nachdem sie das Licht der Welt erblickt hatten, schon wieder so gut wie beerdigt.
Die Studenten hatten vollkommen Recht. So konnte es nicht weitergehen. Seit jenen Tagen hegte Paul tiefen Groll gegen Willkür, Egozentrik und menschenverachtende Haltung auf den obersten Führungsetagen. Er hatte zwei Jahre später einen Schlusspunkt gesetzt und gekündigt.
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Paul - Outplacement - 17. Dez, 22:32
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