InterRail
Kapitel 15 - 13. Juni 2007
Paul kannte das Gefühl, etwas Unrechtes getan zu haben. Mit der Nutzung der fremden Heimnetze hatte er heute zum dritten Mal in seinem Leben bewusst etwas Unrechtmäßiges getan.
Das erste Mal war nicht wieder gut zu machen! Er könnte sich dafür noch heute ohrfeigen. Als kleines Kind, er war sechs Jahre alt gewesen, hatte er das Sparschwein seiner Großeltern in die Hand genommen und geschüttelt. Es war ein hellbraunes Schwein gewesen. Am Klang hatte Paul erkennen können, dass es nicht sehr voll war. Plötzlich fiel ein 2 DM Stück aus dem oberen Schlitz, durch den es auch eingeworfen worden sein musste. Totaler Zufall? Für Paul war es 1959 sehr viel Geld gewesen. Auch für die Erwachsenen war es in der Nachkriegszeit Geld, mit dem sie haushalten mussten. Konnten sie es sparen, so konnten sie sich glücklich schätzen. Seine Großeltern hatten es wahrscheinlich vom Munde abgespart. Paul hatte die zwei Mark nicht wieder eingeworfen, sondern behalten. Er wusste nicht mehr, wofür er es verwendet hatte. Er wusste nur, dass er damit nicht glücklich geworden war, wenngleich seine Tat nie entdeckt wurde. Sie lag noch heute, viele Jahre nach dem Ableben seiner Großeltern, wie ein Schatten auf seiner Seele.
Der zweite Vorfall ereignete sich 1972, in dem Jahr, in dem in München die Olympischen Spiele stattfanden. Der InterRail-Pass war gerade eingeführt worden. Er kostete 235 DM und ermöglichte jungen Leuten bis 21 Jahren unbegrenzte Bahnfahrten innerhalb Europas. Paul war damals das erste Mal allein in Urlaub gefahren. Er erinnerte sich noch genau an die Stationen seiner Reise: Paris, Lissabon, Lagos an der Algarve, Tossa de Mar und Barcelona, Marseille, Wien, Zermatt und das Matterhorn, Davos, Bern, Amsterdam und Duisburg. Duisburg deshalb, weil der HSV dort gegen den MSV spielte und 4:2 gewann. Es war Pauls erstes Auswärtsspiel gewesen, von dem er eine Erkältung davontrug, die ihn mit hohem Fieber und halbtot zu Hause ankommen ließ. Auf der Reise war es häufiger recht abenteuerlich zugegangen. Mitten in Spanien mussten alle Fahrgäste aussteigen. Der Zug war so voll gewesen, dass er das Überqueren einer Anhöhe verweigerte. In Lissabon zahlte Paul für das Hotelzimmer 6 Mark pro Nacht. In Barcelona war er das erste und garantiert auch letzte Mal in seinem Leben in einer Stierkampfarena gewesen. In Neapel, das er eigentlich von Marseille aus ansteuern wollte, war die Cholera ausgebrochen, so dass er umdisponieren musste. Wien, Davos und Bern waren ursprünglich gar nicht eingeplant gewesen. Dann wäre ihm das Erlebnis erspart geblieben, mit dem er die unangenehmen Erinnerungen verband.
Pauls finanzielle Möglichkeiten waren damals begrenzt. Er übernachtete und verpflegte sich so günstig er konnte. Obwohl er nicht viel wog, nahm er auf dieser vierwöchigen Reise fünf Kilogramm ab. In Davos schmerzte ihn die Ausgabe für die Bergbahn, die auf das Jakobshorn führte. Aber die 2.590 Meter waren zu Fuß nicht zu bewältigen. Bevor der Schaffner auf der Rückfahrt kassierte, hielt die Bergbahn an einer Station auf halber Höhe. Paul überlegte nicht lange. Er stieg aus und ging die restliche Wegstrecke zu Fuß. Bergab war der untere Teil kein großes Problem. Er hatte zwei oder drei Franken gespart, aber er hatte sich den ganzen Tag und auch noch den folgenden vermiest. Sein schlechtes Gewissen plagte ihn schon auf dem Weg nach unten, so dass er am Fuße des Berges sogleich nach einem Schalter der Bahngesellschaft Ausschau hielt, um die geprellte Zeche nachzuentrichten. Da es weder Schalter noch Büro gab, erkundigte er sich im Ort nach der Verwaltung der Gesellschaft und lief kilometerweit, um am Spätnachmittag letztendlich vor bereits geschlossenen Türen zu stehen. Die Nacht schlief er kaum. Noch während des Frühstücks rechnete er allen Ernstes damit, dass die Kantonspolizei jeden Moment kommen und ihn verhaften würde.
Er beruhigte sich erst, als er Davos verlassen und in Bern angekommen war. Das hohe Fieber am Ende seiner Reise hatte er als gerechte Strafe empfunden. Ein Seismograph, der in der Lage wäre, nicht nur die Energie zu messen, die bei Erdbeben freigesetzt wird, sondern auch Pauls kriminelle Energie, wäre sein Leben lang praktisch arbeitslos gewesen, seine drei Verfehlungen einmal ausgenommen. Und es gab noch eine Ausnahme: Paul hatte in Tokyo einmal ein schwaches Erdbeben miterlebt, als er in einem Restaurant gerade Tempura aß.
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Paul kannte das Gefühl, etwas Unrechtes getan zu haben. Mit der Nutzung der fremden Heimnetze hatte er heute zum dritten Mal in seinem Leben bewusst etwas Unrechtmäßiges getan.
Das erste Mal war nicht wieder gut zu machen! Er könnte sich dafür noch heute ohrfeigen. Als kleines Kind, er war sechs Jahre alt gewesen, hatte er das Sparschwein seiner Großeltern in die Hand genommen und geschüttelt. Es war ein hellbraunes Schwein gewesen. Am Klang hatte Paul erkennen können, dass es nicht sehr voll war. Plötzlich fiel ein 2 DM Stück aus dem oberen Schlitz, durch den es auch eingeworfen worden sein musste. Totaler Zufall? Für Paul war es 1959 sehr viel Geld gewesen. Auch für die Erwachsenen war es in der Nachkriegszeit Geld, mit dem sie haushalten mussten. Konnten sie es sparen, so konnten sie sich glücklich schätzen. Seine Großeltern hatten es wahrscheinlich vom Munde abgespart. Paul hatte die zwei Mark nicht wieder eingeworfen, sondern behalten. Er wusste nicht mehr, wofür er es verwendet hatte. Er wusste nur, dass er damit nicht glücklich geworden war, wenngleich seine Tat nie entdeckt wurde. Sie lag noch heute, viele Jahre nach dem Ableben seiner Großeltern, wie ein Schatten auf seiner Seele.
Der zweite Vorfall ereignete sich 1972, in dem Jahr, in dem in München die Olympischen Spiele stattfanden. Der InterRail-Pass war gerade eingeführt worden. Er kostete 235 DM und ermöglichte jungen Leuten bis 21 Jahren unbegrenzte Bahnfahrten innerhalb Europas. Paul war damals das erste Mal allein in Urlaub gefahren. Er erinnerte sich noch genau an die Stationen seiner Reise: Paris, Lissabon, Lagos an der Algarve, Tossa de Mar und Barcelona, Marseille, Wien, Zermatt und das Matterhorn, Davos, Bern, Amsterdam und Duisburg. Duisburg deshalb, weil der HSV dort gegen den MSV spielte und 4:2 gewann. Es war Pauls erstes Auswärtsspiel gewesen, von dem er eine Erkältung davontrug, die ihn mit hohem Fieber und halbtot zu Hause ankommen ließ. Auf der Reise war es häufiger recht abenteuerlich zugegangen. Mitten in Spanien mussten alle Fahrgäste aussteigen. Der Zug war so voll gewesen, dass er das Überqueren einer Anhöhe verweigerte. In Lissabon zahlte Paul für das Hotelzimmer 6 Mark pro Nacht. In Barcelona war er das erste und garantiert auch letzte Mal in seinem Leben in einer Stierkampfarena gewesen. In Neapel, das er eigentlich von Marseille aus ansteuern wollte, war die Cholera ausgebrochen, so dass er umdisponieren musste. Wien, Davos und Bern waren ursprünglich gar nicht eingeplant gewesen. Dann wäre ihm das Erlebnis erspart geblieben, mit dem er die unangenehmen Erinnerungen verband.
Pauls finanzielle Möglichkeiten waren damals begrenzt. Er übernachtete und verpflegte sich so günstig er konnte. Obwohl er nicht viel wog, nahm er auf dieser vierwöchigen Reise fünf Kilogramm ab. In Davos schmerzte ihn die Ausgabe für die Bergbahn, die auf das Jakobshorn führte. Aber die 2.590 Meter waren zu Fuß nicht zu bewältigen. Bevor der Schaffner auf der Rückfahrt kassierte, hielt die Bergbahn an einer Station auf halber Höhe. Paul überlegte nicht lange. Er stieg aus und ging die restliche Wegstrecke zu Fuß. Bergab war der untere Teil kein großes Problem. Er hatte zwei oder drei Franken gespart, aber er hatte sich den ganzen Tag und auch noch den folgenden vermiest. Sein schlechtes Gewissen plagte ihn schon auf dem Weg nach unten, so dass er am Fuße des Berges sogleich nach einem Schalter der Bahngesellschaft Ausschau hielt, um die geprellte Zeche nachzuentrichten. Da es weder Schalter noch Büro gab, erkundigte er sich im Ort nach der Verwaltung der Gesellschaft und lief kilometerweit, um am Spätnachmittag letztendlich vor bereits geschlossenen Türen zu stehen. Die Nacht schlief er kaum. Noch während des Frühstücks rechnete er allen Ernstes damit, dass die Kantonspolizei jeden Moment kommen und ihn verhaften würde.
Er beruhigte sich erst, als er Davos verlassen und in Bern angekommen war. Das hohe Fieber am Ende seiner Reise hatte er als gerechte Strafe empfunden. Ein Seismograph, der in der Lage wäre, nicht nur die Energie zu messen, die bei Erdbeben freigesetzt wird, sondern auch Pauls kriminelle Energie, wäre sein Leben lang praktisch arbeitslos gewesen, seine drei Verfehlungen einmal ausgenommen. Und es gab noch eine Ausnahme: Paul hatte in Tokyo einmal ein schwaches Erdbeben miterlebt, als er in einem Restaurant gerade Tempura aß.
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Paul - Outplacement - 3. Nov, 20:17
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