Der letzte Tag

Kapitel 65 - 18. Juni 2008


Als Paul zum letzten Mal das Gebäude seines Arbeitgebers verlassen hatte, in dem er zwölf Jahre tätig war, schaute er sich nach der Verabschiedung vom Pförtner, noch einmal um. Sein Blick fiel auf sein Büro, sein ehemaliges Büro, im ersten Stock, von dem aus man auf das gegenüberliegende Gymnasium blickte, auf die Gästeparkplätze, das Kabuff der Pförtner und den Schlagbaum. Man sah auch die Friedensallee, die S-Bahn-Brücke, einige mehrstöckige Wohnblocks, aus der Zeit um die Jahrhundertwende, wie sie für Altona typisch waren. Die Hausfassaden älteren Ursprungs entstammten der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Paul mochte den strengen, konservativen Stil des Historismus nicht. Andere Fassaden zeigten an den Giebeln, an Umrandungen der Fenster und der Eingänge eindeutig die Merkmale des lieblichen frühen Jugendstils, dessen geschwungene Linien und Formen eine Seite in Paul ansprach, der er sich wenig bewusst war, die in der normierten Arbeitswelt nicht vorkam.

Paul hatte sich innerlich wie abgestorben gefühlt. Keine Tränen, kein Schluchzen wie damals in Tönning am Tag der Beerdigung seines Großvaters. Die Situationen waren mehr als vergleichbar, aber von seinem geliebten Job hatte sich Paul Stück für Stück und lange vorher verabschiedet. Begonnen hatte sein körperlich erzwungener Abschied in Raten mit seinem ersten Hörsturz. Das waren die qualvollen eineinhalb Stunden des schnellen Karusselfahrens gewesen. Paul hatte es fast schon vergessen: Nach diesem Ausfall seines vestibularen Systems, wie es die Mediziner nannten, folgten nicht sofort die immer wiederkehrenden Schwindelattacken. Genau sechs Monate nach dem ersten Hörsturz folgte zunächst ein zweiter Ausfall seines Gleichgewichtssystems und ein erneuter Krankenhausaufenthalt, eine wieder nur relativ kurze Unterbrechung seiner Arbeit. Paul war zutiefst verunsichert. Er hatte sich durchaus nicht für unfehlbar gehalten, aber, dass sein Vestibularsystem streiken könnte, damit hatte er wirklich nicht gerechnet. Er hatte nicht einmal gewusst, dass er über so etwas überhaupt verfügte, geschweige denn, dass es über seine Karriere und seine ganze Existenz und die seiner Familie entscheiden konnte.

Er versuchte seine Probleme in den Griff zu bekommen, so wie er es immer tat, mit dem Verstand. Paul hatte in der Folge viel gelesen über Hörstürze, Durchblutungsstörungen, Entspannungstechniken: 'Das vestibulare System ist primär darauf ausgerichtet Richtungs- und Ortsveränderungen sowie Körperhaltungen zu erfassen. Dazu benötigt das Vestibularsystem Bewegung und Beschleunigung, um Informationen über die grundlegende Lage und Orientierung im Raum zu erhalten. Seine Leistungen bestehen neben der Erfassung von Richtungs- und Ortsveränderungen darin, das Körpergleichgewicht zu erhalten, und die Orientierung über die Rotationen des Körpers zu behalten.' Er bekam kluge Bücher geschenkt: Die Flucht in die Krankheit, Krankheit als Weg, Krankheit als Chance.

Paul hatte keine Chance, er konnte nicht wie seine Mitarbeiter so einfach den Arbeitsplatz wechseln. Erstens hatte er sich in den bis dahin zehn Jahren etwas aufgebaut. Zweitens wäre er mit seiner angeschlagenen Gesundheit, gar nicht in der Lage gewesen, als Personalleiter eines anderen Unternehmens voll durchzustarten. Seine Kraft, sein Zutrauen, seine Zuversicht, seine Ausstrahlung, alles hatte erheblich gelitten. Er musste sich einfach durchbeißen. Aber das war einfacher gesagt als getan. Erst zu diesem Zeitpunkt hatten seine permanenten Schwindelgefühle eingesetzt. Kein Karusselschwindel. Ein Gehschwindel. Erst hatte er den mittäglichen Gang zu Kantine vermieden. Er wusste nicht, wie er heil in den fünften Stock und wieder zurück kommen sollte. Er unterließ jeden vermeidbaren Weg, zum Kopierer, zu seinen Mitarbeitern. Die Toiletten lagen zum Glück nur wenige Schritte von seinem Büro entfernt. Jeder Gang zu einem der Meetings oder einem Gespräch mit einem der Ressortleiter wurde ihm zur Qual. Nicht selten waren die Toilette und später dann die Liege im Ruheraum des betriebsärztlichen Dienstes, der zu seinem Verantwortungsbereich gehörte, seine letzten Zufluchtstätten.

Sein Körper hatte sich lange vor ihm verabschiedet, lange bevor er selbst es wahrhaben wollte, dass die SchwarzChem GmbH für den Verkauf vorbereitet wurde, um danach integriert und bis auf zwei kleine Sparten in Hamburg aufgelöst zu werden.

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Paul

Outplacement (Kriminalroman)

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in meinem autobiografischen Kriminalroman, der sich seit dem 30. Oktober 2007 in Arbeit befindet. (Sollte Ihre Startseite nur ein Kapitel des Romans zeigen, klicken Sie bitte oben auf PAUL.) Für mich geht es beim Schreiben in erster Linie darum, die Geschehnisse der letzten Monate aufzuarbeiten, soweit dieses überhaupt möglich sein wird. Ich möchte hier nichts beschönigen, nichts zu erklären versuchen, mich weder rechtfertigen noch selbstbezichtigen, sondern Abstand gewinnen. Zeit zum Schreiben habe ich in diesen Tagen und Wochen weiß Gott genug. Er möge mir auch die nötige Kraft und Hoffnung geben, um den Roman und mein Leben zu einem guten Ende zu bringen. Der Gedanke daran, dass Sie und andere Leser an meinem Schicksal teilnehmen, ist tröstlich und hilfreich. Ich danke Ihnen!

Was erwartet Sie?

Ohne zuviel vorwegzunehmen: Sicherlich keine leichte Unterhaltung! Aus der Sicht desjenigen, der die Geschichte durchlebt hat, kann von 'leicht' keine Rede sein. Es geht um Hörstürze, Arbeitsplatzverlust, Aufhebungsvertrag, Midlife-Krise, Globalisierung, Outsourcing, Outplacement und Sozialabbau. Aber auch um eine kritische Grundeinstellung und eine recht unglückliche Kettenreaktion. Paul war Personalleiter mit viel Sympathie für Betriebsräte und Arbeitnehmerinteres- sen. Sie erfahren ganz viel über Paul, seine Familie, sein Lieblingsland Italien, seine Urlaubsreisen, Holland, Indien, Japan, China, das Go-Spiel, Hamburg, die Alster und 'seinen' HSV, Schleswig-Holstein, Quickborn, die Bee Gees und, ob Sie wollen oder nicht, über die 'gute' alte Zeit.

INHALT (bisher)


Moin, ich bin Paul!

Eine Art Vorwort ...

1 Ausblick ........... 2 Frühstückstisch ... 3 Ins Netz gegangen 4 Die Achillesferse . 5 Das Mittelmeer ... 6 Gastschüler ....... 7 Tour de France ... 8 Michi ............... 9 Aan Zee ........... 10 Grundsatz- diskussion ........... 11 Der Kongress .... 12 Die Macher ...... 13 Bergen ........... 14 Wilhemminalaan 15 InterRail ......... 16 Für Marijke ...... 17 Die Kernspaltung 18 Personal- management ........ 19 Simmungs- schwankung ......... 20 Die Referenten .. 21 Gmail ............. 22 Die Biografie .... 23 An der Alster ..... 24 Das Hotel ......... 25 Global ............ 26 Das Aquarium .... 27 Die Enten ......... 28 Die Fütterung .... 29 Purismus .......... 30 Hochsitze ....... 31 Eine richtige Familie ............... 32 Tönning .......... 33 Jojo .............. 34 Fußball ............ 35 Café au lait ...... 36 Führungs- grundsätze ........... 37 Uganda ............ 38 Im Internet ....... 39 Volendam ......... 40 Das Abendblatt .. 41 SONY ............. 42 Der Schwindel ... 43 Camcorder ....... 44 Die Einstellung ... 45 Piazza dei Miracoli .............. 46 Go ................. 47 Der Mensch ....... 48 Der Anruf ......... 49 Im Laufschritt .... 50 Besinnung ........ 51 Alles OK .......... 52 Positives Denken 53 Die Bootsfahrt ... 54 Indien.............. 55 Ein Traum ........ 56 Königsberger Klopse ................ 57 Negativ ........... 58 Bella Napoli ...... 59 Schizophrenie ... 60 Der Einkauf ...... 61 Betriebliche Altersversorgung .... 62 Durchgang verboten ............. 63 Finanzamt Elmshorn ............. 64 Woodstock ....... 65 Der letzte Tag ... 66 Im Wald .......... 67 Das Gespräch .... 68 Die Mutprobe .... 69 Die Bee Gees .... 70 Goede namiddag!
FORTSETZUNG FOLGT

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Do I Love You

Manfred Mann
You Angel You

Marc Anthony
You Sang To Me

Mink DeVille
Each Word's A Beat Of My Heart

O-Town
These Are The Days

Paper Lace
Love Song

Peter Gabriel
Solsbury Hill

Queen
I Want To Break Free

Stevie Nicks
Talk To Me

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Drops Of Jupiter

Tremeloes
(Call Me) Number One

White Lion
You're All I Need

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