Der Mensch
Kapitel 47 - 16. Juni 2007
Der Mensch war für Paul ein Wunder der Natur. Da brauchte er nur Claudia anzusehen. Er fand sie so schön wie am ersten Tag, als er sie damals sechzehnjährig in der Tanzschule kennen gelernt hatte. Natürlich war auch seine Tochter ein kleines Wunder. Auch wenn er ihr Dasein weniger den höheren Mächten zuschrieb. Aber wie war er jetzt darauf gekommen, der Mensch sei ein Wunder der Natur? Er war darauf gekommen, weil das Go-Spiel, mit dem er sich gerade beschäftigte, von solcher Komplexität war und so viele ganz unterschiedliche Anforderungen stellte, dass es anders als beim Schach bisher nicht gelungen war, ein Computerprogramm zu entwickeln, das auch nur in Ansätzen in der Lage war, aussichtsreich gegen die besten Go-Spieler der Welt anzutreten. Zu solch unglaublich phantastischen Leistungen war nur der Mensch fähig. Das war wirklich mehr als bewundernswert.
Auf der anderen Seite könnte das Leben so viel schöner sein, wenn es die Menschen nicht gäbe. Paul war klar, dass das so ausgedrückt etwas hart klang. Aber er meinte es schon so. Ärger, Unfriede, Missverständnisse, Missgunst waren für ihn immer verbunden mit anderen Menschen. Manchmal, das konnte Paul nicht ignorieren, auch mit Claudia und Alexandra. Die Deutschen schienen ihm besonders einfallsreich, sich das Leben gegenseitig schwer zu machen. Gestern Morgen hatte er sich erschrocken. Auf seinem Fußweg zum Einkaufscenter träumte er, wie er es gern tat, einfach so vor sich hin, als ihn ein lautes 'Goedendag' erschreckte. Er muss den Mann ganz verdutzt angesehen haben. Er versuchte sich zu erinnern, aber er kannte den Herrn nicht. Auf den vielleicht fünfhundert Metern bis zum Center war er noch mindestens vier Mal freundlichst gegrüßt worden. Und es war nicht aufgesetzt oder einfach so dahergesagt. Nein, er sah es in den Gesichtern, es kam von innen. Die Holländer grüßten ihn von Herzen gern.
Wenn er in Hamburg oder auch in Quickborn unterwegs war, passierte ihm das nie. Ganz im Gegenteil, wenn er es einmal war, der freundlich grüßte, weil, wie er meinte, die Situation es gebot, kam oft keine Antwort, keinerlei Reaktion. Ihre Nachbarn waren auch so Typen, immer vergrämt und nie grüßend. In Hamburg überall gefühlter Stress und missgelaunte Mienen. Man wurde angerempelt. Die Worte 'Entschuldigung', 'bitte' oder 'danke' waren ausgestorben, zu Fremdwörtern geworden. Wer hielt einem heute noch die Tür auf? Wer nahm Rücksicht? Nur ganz wenige. Der einzelne Mensch mochte ein Wunder der Natur sein, über das Zusammenleben der Menschen konnte sich Paul nur immer wieder wundern.
Noch eindrucksvoller fand es Paul, wie die Menschen, die sich das Leben auf der einen Seite so schwer machten, es sich auf der anderen Seite wieder schön redeten. Wie sie die offensichtlichsten Fehlentwicklungen nicht nur nicht wahrnahmen, sondern sich sogar noch das genaue Gegenteil davon einzureden vermochten. Sie vollführten mit ihrem Gehirn, Verstand wollte es Paul an dieser Stelle lieber nicht nennen, wahre und ganz wunderliche Kunststücke. Im März waren er und Claudia von Bekannten eingeladen gewesen. Der Hausherr hatte gekocht und das sogar ganz vortrefflich. Man unterhielt sich bestens, bis Paul es nicht lassen konnte, das Gespräch bei passender Gelegenheit auf den Klimawandel zu bringen. Ein Wort gab das andere. Paul vertrat den Standpunkt, dass die notwendigen Kurskorrekturen zur Reduktion des CO2-Ausstoßes nicht rechtzeitig erfolgen werden. Dass ausgerechnet die Mehrheitsdemokratien der westlichen Welt, die die bedenkliche Entwicklung mit ihrer Konsum- und Wachstumseuphorie erst verursacht hatten, zurückrudern würden, sei für ihn ganz unwahrscheinlich. Zu groß und unverbesserlich sei der Einfluss von Wirtschaft und egoistischer Grundhaltung der Bürger.
Paul und Claudia erlebten ein Musterbeispiel von Verdrängung und Schönfärberei: Das Klima hätte sich nicht signifikant und schon gar nicht dramatisch verändert. Vergleichbare Temperaturschwankungen hätte es zu allen Epochen der Erdgeschichte immer wieder gegeben. In diesem Jahr seien zwei äußerst stabile Hochdruckgebiete für die höheren Temperaturen verantwortlich, die sich so ganz leicht erklären ließen. Außerdem sei gerade Deutschland das Land auf der Welt, das den Umweltschutz quasi erfunden hätte. Deutschland sei es, das soviel wie kein anderes Land für den Schutz der Umwelt täte und seine Technologie zum Segen der Menschheit und mit den zu erwartenden positiven Auswirkungen für die Umwelt in die ganze Welt exportiere. Dass jeder Deutsche mit sage und schreibe elf Tonnen CO2 pro Jahr zum weltweiten Klimawandel beitrug, schien gar keine Rolle zu spielen. Dass Deutschland damit nach den USA/Kanada das Industrieland mit der zweit- oder drittstärksten CO2-Emission pro Kopf der Bevölkerung war, zweitstärkster Klimasünder der Welt, das konnte jeder wissen, der es wissen wollte. Aber wer wollte das schon wissen? Stattdessen waren wir die Größten. Das war für Paul Bild-Zeitungsniveau. Dabei war der kochende Gesprächspartner alles andere als blöd. Er hatte studiert und war Leiter des internationalen Marketings einer großen japanischen Company. Er reiste heute zur Messe nach Las Vegas und morgen zur Muttergesellschaft nach Tokyo.
Auch ironisch betrachtet, war der Mensch für Paul ein wahres Wunder der Natur. Er konnte sich selbst ein X für ein U vormachen. Als zweitgrößter Klimaverschmutzer der Welt konnte er sich als Umweltschützer Nummer ein fühlen und auch noch allen Ernstes daran glauben. Da war Paul erst recht klar geworden, dass es in Deutschland nie und nimmer zu der notwendigen achtzigprozentigen Reduktion der CO2-Emissionen kommen würde. Er hatte aber des lieben Friedens willen schon gar nichts mehr geäußert. Der schöne Abend war sowieso ramponiert genug gewesen.
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Der Mensch war für Paul ein Wunder der Natur. Da brauchte er nur Claudia anzusehen. Er fand sie so schön wie am ersten Tag, als er sie damals sechzehnjährig in der Tanzschule kennen gelernt hatte. Natürlich war auch seine Tochter ein kleines Wunder. Auch wenn er ihr Dasein weniger den höheren Mächten zuschrieb. Aber wie war er jetzt darauf gekommen, der Mensch sei ein Wunder der Natur? Er war darauf gekommen, weil das Go-Spiel, mit dem er sich gerade beschäftigte, von solcher Komplexität war und so viele ganz unterschiedliche Anforderungen stellte, dass es anders als beim Schach bisher nicht gelungen war, ein Computerprogramm zu entwickeln, das auch nur in Ansätzen in der Lage war, aussichtsreich gegen die besten Go-Spieler der Welt anzutreten. Zu solch unglaublich phantastischen Leistungen war nur der Mensch fähig. Das war wirklich mehr als bewundernswert.
Auf der anderen Seite könnte das Leben so viel schöner sein, wenn es die Menschen nicht gäbe. Paul war klar, dass das so ausgedrückt etwas hart klang. Aber er meinte es schon so. Ärger, Unfriede, Missverständnisse, Missgunst waren für ihn immer verbunden mit anderen Menschen. Manchmal, das konnte Paul nicht ignorieren, auch mit Claudia und Alexandra. Die Deutschen schienen ihm besonders einfallsreich, sich das Leben gegenseitig schwer zu machen. Gestern Morgen hatte er sich erschrocken. Auf seinem Fußweg zum Einkaufscenter träumte er, wie er es gern tat, einfach so vor sich hin, als ihn ein lautes 'Goedendag' erschreckte. Er muss den Mann ganz verdutzt angesehen haben. Er versuchte sich zu erinnern, aber er kannte den Herrn nicht. Auf den vielleicht fünfhundert Metern bis zum Center war er noch mindestens vier Mal freundlichst gegrüßt worden. Und es war nicht aufgesetzt oder einfach so dahergesagt. Nein, er sah es in den Gesichtern, es kam von innen. Die Holländer grüßten ihn von Herzen gern.
Wenn er in Hamburg oder auch in Quickborn unterwegs war, passierte ihm das nie. Ganz im Gegenteil, wenn er es einmal war, der freundlich grüßte, weil, wie er meinte, die Situation es gebot, kam oft keine Antwort, keinerlei Reaktion. Ihre Nachbarn waren auch so Typen, immer vergrämt und nie grüßend. In Hamburg überall gefühlter Stress und missgelaunte Mienen. Man wurde angerempelt. Die Worte 'Entschuldigung', 'bitte' oder 'danke' waren ausgestorben, zu Fremdwörtern geworden. Wer hielt einem heute noch die Tür auf? Wer nahm Rücksicht? Nur ganz wenige. Der einzelne Mensch mochte ein Wunder der Natur sein, über das Zusammenleben der Menschen konnte sich Paul nur immer wieder wundern.
Noch eindrucksvoller fand es Paul, wie die Menschen, die sich das Leben auf der einen Seite so schwer machten, es sich auf der anderen Seite wieder schön redeten. Wie sie die offensichtlichsten Fehlentwicklungen nicht nur nicht wahrnahmen, sondern sich sogar noch das genaue Gegenteil davon einzureden vermochten. Sie vollführten mit ihrem Gehirn, Verstand wollte es Paul an dieser Stelle lieber nicht nennen, wahre und ganz wunderliche Kunststücke. Im März waren er und Claudia von Bekannten eingeladen gewesen. Der Hausherr hatte gekocht und das sogar ganz vortrefflich. Man unterhielt sich bestens, bis Paul es nicht lassen konnte, das Gespräch bei passender Gelegenheit auf den Klimawandel zu bringen. Ein Wort gab das andere. Paul vertrat den Standpunkt, dass die notwendigen Kurskorrekturen zur Reduktion des CO2-Ausstoßes nicht rechtzeitig erfolgen werden. Dass ausgerechnet die Mehrheitsdemokratien der westlichen Welt, die die bedenkliche Entwicklung mit ihrer Konsum- und Wachstumseuphorie erst verursacht hatten, zurückrudern würden, sei für ihn ganz unwahrscheinlich. Zu groß und unverbesserlich sei der Einfluss von Wirtschaft und egoistischer Grundhaltung der Bürger.
Paul und Claudia erlebten ein Musterbeispiel von Verdrängung und Schönfärberei: Das Klima hätte sich nicht signifikant und schon gar nicht dramatisch verändert. Vergleichbare Temperaturschwankungen hätte es zu allen Epochen der Erdgeschichte immer wieder gegeben. In diesem Jahr seien zwei äußerst stabile Hochdruckgebiete für die höheren Temperaturen verantwortlich, die sich so ganz leicht erklären ließen. Außerdem sei gerade Deutschland das Land auf der Welt, das den Umweltschutz quasi erfunden hätte. Deutschland sei es, das soviel wie kein anderes Land für den Schutz der Umwelt täte und seine Technologie zum Segen der Menschheit und mit den zu erwartenden positiven Auswirkungen für die Umwelt in die ganze Welt exportiere. Dass jeder Deutsche mit sage und schreibe elf Tonnen CO2 pro Jahr zum weltweiten Klimawandel beitrug, schien gar keine Rolle zu spielen. Dass Deutschland damit nach den USA/Kanada das Industrieland mit der zweit- oder drittstärksten CO2-Emission pro Kopf der Bevölkerung war, zweitstärkster Klimasünder der Welt, das konnte jeder wissen, der es wissen wollte. Aber wer wollte das schon wissen? Stattdessen waren wir die Größten. Das war für Paul Bild-Zeitungsniveau. Dabei war der kochende Gesprächspartner alles andere als blöd. Er hatte studiert und war Leiter des internationalen Marketings einer großen japanischen Company. Er reiste heute zur Messe nach Las Vegas und morgen zur Muttergesellschaft nach Tokyo.
Auch ironisch betrachtet, war der Mensch für Paul ein wahres Wunder der Natur. Er konnte sich selbst ein X für ein U vormachen. Als zweitgrößter Klimaverschmutzer der Welt konnte er sich als Umweltschützer Nummer ein fühlen und auch noch allen Ernstes daran glauben. Da war Paul erst recht klar geworden, dass es in Deutschland nie und nimmer zu der notwendigen achtzigprozentigen Reduktion der CO2-Emissionen kommen würde. Er hatte aber des lieben Friedens willen schon gar nichts mehr geäußert. Der schöne Abend war sowieso ramponiert genug gewesen.
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Paul - Outplacement - 11. Feb, 10:38
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