Die Einstellung
Kapitel 44 - 16. Juni 2007
Paul musste noch einmal an Claudias Worte denken und an das, was sie ihm über den Schwindel vorgelesen hatte: Meist hat der Patient am Anfang der Erkrankung eine Schwindelattacke als sehr verunsichernd erlebt. Das traf auf ihn allerdings zu. In der Küche war es passiert. Paul hatte angetrocknetes Eigelb vom Frühstücksgeschirr abgespült, bevor er es in den Geschirrspüler stellen wollte. Plötzlich der Schock. Alles drehte sich um ihn. Er fuhr Karussel, nur viel schneller. Als er sich mit Mühe zum nächsten Stuhl vorgetastet und hingesetzt hatte, wollte es immer noch nicht wieder aufhören. Erst eineinhalb Stunden später rettete ihn im AK Heidberg eine Spritze und das endlose Drehen um die eigene Achse hörte auf. Nach zehn Tagen und etlichen Infusionen war er 'geheilt' wieder entlassen worden. Diagnose: Hörsturz. Sein Gehör war zwar nicht in Mitleidenschaft gezogen - außer ein klein wenig die höchsten Höhen im linken Ohr - aber das im Ohr befindliche Gleichgewichtsorgan war zwischenzeitlich ausgefallen. Auf welcher Seite, das ließ sich später nicht mehr feststellen. Vermutete Ursache: Durchblutungsstörung aufgrund stressbedingter Gefäßverengung. Als Personalleiter und Leitender Angestellter war Paul da wohl kein Einzelfall.
Kurze Zeit später hatten die bald immer häufiger wiederkehrenden Schwindelattacken eingesetzt, die ihn drei Jahre lang quälen sollten. Aber das war zum Glück alles vergessen. Wenn überhaupt, dann machte ihm etwas ganz anderes Kopfzerbrechen. Das, was Claudia mit den Worten Negativismus, schlechte Laune, Engstirnigkeit und Hartnäckigkeit umschrieb. Du musst an deinen Einstellungen arbeiten, war so ein Spruch von ihr. Er musste zugeben, dass er immer häufiger kritische Kommentare abgab, dass er sich da auch nicht beirren ließ und dass er selten lachte. Alexandra hatte aus den USA den Begriff Positiv Thinking mitgebracht. Der war für sie und ihre Mutter zum geflügelten Wort geworden, mit dem sie seine Kommentare immer öfter abblockten. Aber es gelang Paul einfach nicht, Dinge schön zu finden, wenn sie nicht schön waren. Er konnte auch nicht lachen, wenn es nichts zu lachen gab. Wenn er die Nachrichten sah, was er sich schon weitestgehend abgewöhnt hatte, wenn er die Zeitungen las, auch hier beschränkte er sich so gut es ging auf den Sport- und den Wirtschaftsteil, wenn er die Politiker reden hörte oder die Unternehmensmeldungen verfolgte, wenn aus Afghanistan, dem Irak oder Uganda berichtet wurde.
Verflucht noch mal, wie sollte er das alles gut finden? Das ging nicht. Ganz wegsehen ging aber auch nicht. Wie machten das die anderen Menschen bloß? Hörten die weg? Sahen die weg? Wie im dritten Reich? Fanden die das alles normal? Oder hatten die nach fünf Minuten bereits alles wieder vergessen, verdrängt? Nahmen die alle Valium? Wie ging das? Paul dachte an Aldous Huxleys Roman 'Schöne neue Welt', in dem die Menschen durch den permanenten Konsum von Soma zufriedengestellt werden und das Bedürfnis zum kritischen Denken und Hinterfragen der Weltordnung verlieren. Paul fielen auch die drei weisen Affen ein, die er im Alter von 28 Jahren in Japan fotografiert hatte. Seine Gastgeber hatten einen Zwei-Tages-Ausflug mit ihm unternommen, nach Nikkō und zum atemberaubend schönen Kegon-Wasserfall. Bei Nikkō, auf dem Gelände des Tōshōgū-Schreins besichtigten sie die weltberühmten holzgeschnitzten Affen. Der linke Affe hielt sich die Ohren zu, der mittlere den Mund und der rechte die Augen. Nichts hören, nichts sagen, nichts sehen! Paul war der Meinung, dass da noch zwei Affen fehlten - einer ohne Kopf und der andere ohne Herz. Nicht denken! Nicht an die anderen Menschen denken (sondern nur an sich selbst)!
Paul konnte so jedenfalls nicht leben. Er wollte es auch nicht! Paul dachte in diesem Zusammenhang jedes Mal an seinen HSV. Auch jetzt wieder. Wenn der miserabel spielte, würde es ihm nicht im Traum einfallen, seine Arme im Rhythmus einer La-Ola-Welle hochzureißen. Selbst mit positivstem Thinking nicht! 50.000 Zuschauer um ihn herum taten aber genau das! Es blieb Paul ein Rätsel. In welcher Weise konnte es ihm nur gelingen, seine Einstellung zu ändern? Ja, wenn sein Herz nicht mehr am HSV hängen würde, dann wäre es zwar immer noch kein gutes Spiel, aber er könnte vielleicht mitjubeln. War es das, was er ohnehin seit langem vermutete? Waren die 50.000 gar keine richtigen Fans, sondern nur Eventfreaks, denen ein volles Stadion, ein ebensolcher Magen, nette Unterhaltung und gute Stimmung reichten? Die mehr gar nicht erwarteten? Manchmal kam er sich im vollbesetzten Stadion vollkommen verlassen und einsam vor. Als einer der letzten echten Fans aus der ehemaligen Westkurve.
Fankurve der Nordbank-Arena im Hamburger Volkspark
Nur ging es ihm so im ganzen Leben! Und das fand auch er irgendwie bedenklich. Die Welt veränderte sich immer schneller, drehte sich immer schneller. Verursachte das seinen Schwindel? Paul wusste, dass es die Veränderung an sich nicht sein konnte. Er war wirklich recht anpassungsfähig. Es war auch nicht die Schnelligkeit mit der die Veränderungen um ihn herum von statten gingen. Er hielt sich für reaktionsschnell und Neuem gegenüber immer aufgeschlossen. Nein, es war die Richtung der Veränderung, die ihm missfiel. Er war einfach nicht bereit, alles mitzumachen. Er wollte seine Wertvorstellungen nicht über Bord werfen, wollte sich nicht 'verstellen'. Es musste einen anderen Weg geben.
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Paul musste noch einmal an Claudias Worte denken und an das, was sie ihm über den Schwindel vorgelesen hatte: Meist hat der Patient am Anfang der Erkrankung eine Schwindelattacke als sehr verunsichernd erlebt. Das traf auf ihn allerdings zu. In der Küche war es passiert. Paul hatte angetrocknetes Eigelb vom Frühstücksgeschirr abgespült, bevor er es in den Geschirrspüler stellen wollte. Plötzlich der Schock. Alles drehte sich um ihn. Er fuhr Karussel, nur viel schneller. Als er sich mit Mühe zum nächsten Stuhl vorgetastet und hingesetzt hatte, wollte es immer noch nicht wieder aufhören. Erst eineinhalb Stunden später rettete ihn im AK Heidberg eine Spritze und das endlose Drehen um die eigene Achse hörte auf. Nach zehn Tagen und etlichen Infusionen war er 'geheilt' wieder entlassen worden. Diagnose: Hörsturz. Sein Gehör war zwar nicht in Mitleidenschaft gezogen - außer ein klein wenig die höchsten Höhen im linken Ohr - aber das im Ohr befindliche Gleichgewichtsorgan war zwischenzeitlich ausgefallen. Auf welcher Seite, das ließ sich später nicht mehr feststellen. Vermutete Ursache: Durchblutungsstörung aufgrund stressbedingter Gefäßverengung. Als Personalleiter und Leitender Angestellter war Paul da wohl kein Einzelfall.
Kurze Zeit später hatten die bald immer häufiger wiederkehrenden Schwindelattacken eingesetzt, die ihn drei Jahre lang quälen sollten. Aber das war zum Glück alles vergessen. Wenn überhaupt, dann machte ihm etwas ganz anderes Kopfzerbrechen. Das, was Claudia mit den Worten Negativismus, schlechte Laune, Engstirnigkeit und Hartnäckigkeit umschrieb. Du musst an deinen Einstellungen arbeiten, war so ein Spruch von ihr. Er musste zugeben, dass er immer häufiger kritische Kommentare abgab, dass er sich da auch nicht beirren ließ und dass er selten lachte. Alexandra hatte aus den USA den Begriff Positiv Thinking mitgebracht. Der war für sie und ihre Mutter zum geflügelten Wort geworden, mit dem sie seine Kommentare immer öfter abblockten. Aber es gelang Paul einfach nicht, Dinge schön zu finden, wenn sie nicht schön waren. Er konnte auch nicht lachen, wenn es nichts zu lachen gab. Wenn er die Nachrichten sah, was er sich schon weitestgehend abgewöhnt hatte, wenn er die Zeitungen las, auch hier beschränkte er sich so gut es ging auf den Sport- und den Wirtschaftsteil, wenn er die Politiker reden hörte oder die Unternehmensmeldungen verfolgte, wenn aus Afghanistan, dem Irak oder Uganda berichtet wurde.
Verflucht noch mal, wie sollte er das alles gut finden? Das ging nicht. Ganz wegsehen ging aber auch nicht. Wie machten das die anderen Menschen bloß? Hörten die weg? Sahen die weg? Wie im dritten Reich? Fanden die das alles normal? Oder hatten die nach fünf Minuten bereits alles wieder vergessen, verdrängt? Nahmen die alle Valium? Wie ging das? Paul dachte an Aldous Huxleys Roman 'Schöne neue Welt', in dem die Menschen durch den permanenten Konsum von Soma zufriedengestellt werden und das Bedürfnis zum kritischen Denken und Hinterfragen der Weltordnung verlieren. Paul fielen auch die drei weisen Affen ein, die er im Alter von 28 Jahren in Japan fotografiert hatte. Seine Gastgeber hatten einen Zwei-Tages-Ausflug mit ihm unternommen, nach Nikkō und zum atemberaubend schönen Kegon-Wasserfall. Bei Nikkō, auf dem Gelände des Tōshōgū-Schreins besichtigten sie die weltberühmten holzgeschnitzten Affen. Der linke Affe hielt sich die Ohren zu, der mittlere den Mund und der rechte die Augen. Nichts hören, nichts sagen, nichts sehen! Paul war der Meinung, dass da noch zwei Affen fehlten - einer ohne Kopf und der andere ohne Herz. Nicht denken! Nicht an die anderen Menschen denken (sondern nur an sich selbst)!
Paul konnte so jedenfalls nicht leben. Er wollte es auch nicht! Paul dachte in diesem Zusammenhang jedes Mal an seinen HSV. Auch jetzt wieder. Wenn der miserabel spielte, würde es ihm nicht im Traum einfallen, seine Arme im Rhythmus einer La-Ola-Welle hochzureißen. Selbst mit positivstem Thinking nicht! 50.000 Zuschauer um ihn herum taten aber genau das! Es blieb Paul ein Rätsel. In welcher Weise konnte es ihm nur gelingen, seine Einstellung zu ändern? Ja, wenn sein Herz nicht mehr am HSV hängen würde, dann wäre es zwar immer noch kein gutes Spiel, aber er könnte vielleicht mitjubeln. War es das, was er ohnehin seit langem vermutete? Waren die 50.000 gar keine richtigen Fans, sondern nur Eventfreaks, denen ein volles Stadion, ein ebensolcher Magen, nette Unterhaltung und gute Stimmung reichten? Die mehr gar nicht erwarteten? Manchmal kam er sich im vollbesetzten Stadion vollkommen verlassen und einsam vor. Als einer der letzten echten Fans aus der ehemaligen Westkurve.
Fankurve der Nordbank-Arena im Hamburger Volkspark
Nur ging es ihm so im ganzen Leben! Und das fand auch er irgendwie bedenklich. Die Welt veränderte sich immer schneller, drehte sich immer schneller. Verursachte das seinen Schwindel? Paul wusste, dass es die Veränderung an sich nicht sein konnte. Er war wirklich recht anpassungsfähig. Es war auch nicht die Schnelligkeit mit der die Veränderungen um ihn herum von statten gingen. Er hielt sich für reaktionsschnell und Neuem gegenüber immer aufgeschlossen. Nein, es war die Richtung der Veränderung, die ihm missfiel. Er war einfach nicht bereit, alles mitzumachen. Er wollte seine Wertvorstellungen nicht über Bord werfen, wollte sich nicht 'verstellen'. Es musste einen anderen Weg geben.
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Paul - Outplacement - 1. Feb, 10:07
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